Die Architektur der tausend Nadelstiche

Ulf Meyer
11. November 2015

Fragt man selbst Experten in China, den USA, Japan, Korea oder anderswo, welchen zeitgenössischen deutschen Architekten sie am meisten schätzen, erntet man meist nur verlegenes Grinsen, Schweissausbrüche und allenfalls Gestotter, in dem nur das Wort «Behnisch» zu vernehmen ist. Günter Behnisch ist allerdings seit fünf Jahren tot – und ein echter «Starchitekt» mit internationaler Ausstrahlung war er auch zu Lebzeiten nicht. Dass die deutsche Architekturlandschaft partout keine Stars hervorzubringen vermag (auch die deutsche Architekturpresse trägt vermutlich dazu bei) mag zwar bisweilen seinen Charme haben, es ist jedoch auch ein riesiges Problem: Denn wenn international kein einziger deutscher Architektenname «Klang» hat, dann fehlt es auch in wohlwollend kritischer Begleitung der deutschen Architekturszene von aussen.

Unter den wohl mehr als 100'000 Architekten hierzulande – niemand exzeptionell? Mini-Länder wie die Schweiz oder die Niederland, selbst Dänemark und Österreich machen es seit Jahren erfolgreich vor, wie es gehen könnte. Da kann sich die deutsche Architektenschaft zehnmal auf die verwöhnende Sonderkonjunktur nach der Wende und die mangelnde Kolonialgeschichte herausreden: Dänemark und die Schweiz etwa hatten auch nie große Teile der Welt kolonialisiert und haben die Wirtschaftskrisen der letzten Jahre stattdessen genutzt, ihr Profil nach aussen zu schärfen. Wenn es der zeitgenössischen Architektur also an jeglichem internationalen Renommee in Bezug auf Gestaltung mangelt, dann wird die «ökologische und technische Kompetenz» deutscher Architekten umso wichtiger. Um beide potenziellen Tugenden ist es jedoch kümmerlich bestellt.

Ökologisches Bauen in der Krise
Für ein Land ohne Rohstoffe, mit einer starken Ingenieurstradition und Exportwirtschaft liegt es nahe, im ökologischen Bauen einen Vorsprung erreichen zu wollen. Ausgerechnet die US-Amerikaner, weltweit für ihren energie- und ressourcenverschwendenden Lebensstil bekannt, stehlen den deutschen Architekten in diesem Bereich jedoch schon seit vielen Jahren die Schau. «LEED» mag inhaltlich fragwürdig und über-kommerziell sein, weltweit ist es dennoch der Maßstab für – zumindest angeblich – umweltfreundliches Bauen. «DGNB» – dieses nicht nur für ausländische Zungen unaussprechliche Akronym zeigt hingegen schon an, dass hier deutsche Insulaner-Mentalität auf Technikhuberei stößt und dabei - gerne und stolz wohlgemerkt - Komplexitätsgrade erreicht, die abschrecken. Inhaltlich mag es noch so superior sein, wenn es international keine Beachtung findet, kann es auch dem internationalen Vergleich nicht dienen – und etwaiges deutsches Know-how im nachhaltigen Bauen herausstellen. Der Verweis auf die weltweit wohl einmalig hohen Anforderungen an die thermische Performance von Gebäude der EnEV hilft nicht – in- wie ausländische Architekten schütteln meist nur noch den Kopf angesichts der unförmig aufgeplusterten, verklebten Thermo-Haut-Monster, die hierzulande der «Umweltfreundlichkeit» zuliebe entstehen- und jeglichen Anflug von Eleganz vermissen lassen.  Technik-Gewitter – die wildgewordenen Haustechniker (nur scherzhaft auch Hasstechniker genannt) haben die Kontrolle über die deutschen Baustellen schon lange übernommen – zu ihrem eigenen Vorteil zwar, aber bestimmt nicht im Sinne der Baukultur. 

Angesichts der geringen Zahl offener Wettbewerber ist die Teilnehmerzahl bei Architekturwettbewerben ohne hohe Zugangshürden oft erdrückend hoch: Hunderte von begabten Architekten haben jeweils Zehntausende von Euros werte Leistungen erbracht, die im Papierkorb landen. Kein anderer Berufsstand leistet sich diesen «Luxus», besser gesagt diese Verschwendung! Eine perfide Konsequenz daraus sind die immer höheren Hürden für die Referenzen: Um selbst mittelgroße Projekte an Land zu ziehen, müssen Architekten heute in Broschüren, die mehr als hundert Seiten Umfang annehmen können, nachweisen, dass sie schon als Superprofis auf die Welt gekommen sind. Innovation wird so sehr effektiv behindert, wenn nur noch ausgewiesene Krankenhaus-Bauer Krankenhäuser bauen etc. Keine Jungfrau ist schließlich erfahren auf die Welt gekommen und selbst Deutschlands wohl bekanntester Architekt, Meinhard von Gerkan, hat seine Karriere bei einem offenen Wettbewerb beginnen können, zu dem er heute nicht im Traum zugelassen würde!

Vier Skandalprojekte: Nord, Süd, West und Ost
Der Berliner Flughafen, der Stuttgarter Bahnhof, die Elbphilharmonie in Hamburg und das Stadtarchiv in Köln – vier Skandalprojekte, über die in den Medien und in der Öffentlichkeit zu recht gespottet und geschimpft wird – sie haben das Ansehen deutscher Ingenieure und Planer gründlich ruiniert. Wenn deutschen Architekten im Ausland schon wenig Gestaltungskraft zugetraut wird, dann ist eine Einbuße im Renommee für Organisation, Pünktlichkeit, Unbestechlichkeit umso gravierender. Der Staat, selbst mitten im Zentrum des Problems, engagiert sich zugleich, wenn auch nur halbherzig – in einer «Stiftung Baukultur». Einen Sinneswandel hin zur richtigen Einschätzung der Kraft und Macht der Architektur hat sie jedoch ganz offensichtlich selbst im innersten Zirkel der Bundespolitiker bisher noch nicht hervorrufen können – das Zentrum des politischen Geschehens, der Platz der Republik in Berlin ist dafür selbst das beste Beispiel. Zwar poppen triste Monsterbauten für Ministerien und Geheimdienste aus dem Berliner Sand, das «Band des Bundes» bleibt dennoch nur eine Skizze, an der fleißig von Laien herumretuschiert wird. Selbst der Zugang zum Parlament ist eine hässliche Container-Burg, die nun durch einen völlig verfehlten städtebaulichen Kraftakt verschlimmbessert werden soll. 

Hoffnungsträger Baugruppe?
Wenn schon die öffentliche Hand als qualifizierter Bauherr weitgehend ausscheidet, dann ist die Suche nach ambitionierten, (wage-) mutigen und offen denkenden privaten Bauherren umso wichtiger. Erfreulicherweise ist in den letzten Jahren ein neues Typus Bauherr aufgetreten, der diese Kriterien erfüllen kann: Die Baugruppe. Auf dem derzeit wichtigsten Markt, dem Wohnungsbaumarkt, haben Bauguppen als Bauherren tatsächlich Innovationen nicht nur möglich gemacht, sondern teils auch gefordert und gefördert. Anonyme Kapitalgesellschaften, wie die nun mehrheitlich börsennotierten Wohnungskonzerne, drücken Architekten hingegen bisweilen bizarre Auflagen in ihren Verträgen auf. Neureiches Gebaren bei knappsten Raumhöhen und –breiten oder Fassadenwettbewerbe, bei denen es nur um «Chic»-heit geht, der Zusammenhang von Raum und Ansicht des Gebäudes jedoch komplett negiert wird – auch hier geht der Bund als Bauherr beim «Wiederaufbau» des Berliner Stadtschlosses mit schlechtem Beispiel voran. Fassaden-Kosmetik ist zwar viel gefragt, gehört aber traditionell nicht zum gestalterischen Repertoire der Architekten und wird im Studium nicht gelehrt. Ob kommende Generationen an Absolventen, die die Dutzenden von deutschen Hochschulen jedes Jahr auf den Arbeitsmarkt entlassen, es angesichts eines recht verschulten Bachelor- und Master-Studiums zukünftig leichter haben werden die eierlegende Wollmilchsau zu spielen, die Architekten sein müssen? Allround-Genie sein, das von Technik, Physik, Betriebswirtschaft, Psychologie über Politik und Kunst – einfach von allem – etwas versteht, ist nicht leicht! 

«Wie könnte es besser laufen?» – diese Frage wird an selber Stelle auf german-architects.com in zwei Wochen diskutiert. 


Ulf Meyer hat in Berlin und Chicago Architektur studiert. Er arbeitete bei Shigeru Ban Architects in Tokyo und unterrichtete an der Kansas State University, der University of Nebraska-Lincoln und der Tamkang University in Taiwan. Heute lebt und arbeitet Meyer als Architekturjournalist in Berlin.