Hamburgs post-olympische Schmerzen

Nach dem Spektakel kommt das Schwarzbrot

Oliver Pohlisch
27. Januar 2016
Moldauhafen am Kleinen Grasbrook, Blick von Sachsenbrücke nordwärts (Bild: Gerd Fahrenhorst / Wikimedia Commons)

Doch in einem Referendum Ende November hatten 51,6 Prozent der Hamburger gegen eine Bewerbung ihrer Kommune für die Sommerspiele 2024 votiert. Als sein Traum von Olympia an Elbe und Alster geplatzt war, bemerkte Neumann sarkastisch: «Dann eben wieder Busbeschleunigung». Eine Untertreibung der stadtplanerischen Herausforderungen, die Hamburg in nächster Zeit zu bewältigen hat.

Olympia als Generator für Stadtplanung
Der Deutsche Olympische Sportbund wollte eine pro-olympische Stimmung unter den Hanseaten und Hanseatinnen festgestellt haben, als er im März vergangenen Jahres bei der nationalen Kandidatenauswahl Hamburg den Vorzug vor Berlin gab. Die Spree-Athener hatten offensichtlich keine große Begeisterung für eine Olympia-Bewerbung gezeigt. Aber generell scheint die Bevölkerung deutscher Großstädte sich für die Idee, das weltgrößte Sportevent vor die eigene Haustür zu holen, immer weniger erwärmen zu können. Schon im November 2013 scheiterte die Münchner Kandidatur für die Winterspiele 2022 in einer Volksabstimmung.

Im Laufe der vergangenen Jahrzehnte hat Olympia sich zu einem gigantischen Programm der urbanen Restrukturierung entwickelt, das alle vier Jahre neu aufgelegt wird. Vor allem die Sommerspiele 1992 in Barcelona werden immer wieder als Best Practice für die Festivalisierung der Stadtplanung angeführt. Nicht selten eifern sozialdemokratisch regierte Rathäuser dem Beispiel der katalanischen Kapitale nach, wenn es darum geht, das von ihnen mit zu Grabe getragene Modell einer wohlfahrtstaatlich orientierten Planungspolitik durch neue Leitbilder zu ersetzen. So holte Londons linker Labour-Bürgermeister Ken Livingstone Olympia 2012 an die Themse, um den Osten der britischen Hauptstadt sozioökonomisch aufzuwerten.

In Hamburg war es der rot-grün regierte Senat, der seine Bewerbung ziemlich genau nach Lehrbuch verfasst hat. Die Spiele bewarb er als Katalysator für eine Entwicklung, die im Osten und Süden des Zentrums längst im vollen Gange ist. Sie mit eventbasierten Projekten voranzutreiben, hat geradezu Tradition. Insbesondere Wilhelmsburg ist zu einem Experimentierfeld für diese Praxis geworden. 2006 bis 2013 fand dort die Internationale Bauausstellung statt, 2013 war Wilhelmsburg Standort einer Internationalen Gartenschau.

Karte vom Kleinen Grasbrook, Grafik: OpenStreetMap-Mitwirkende via Wikimedia Commons

Vertrauensverlust
Während schon andernorts in der Realisierung befindliche Quartiersentwicklungen flugs in Hamburgs olympische Vision integriert wurden, geriet erneut der Kleine Grasbrook in den Fokus der Planer. Die gegenwärtig als Hafenstandort dienende Elbinsel war erstmals 2003 als Olympia-Standort im Gespräch – Hamburg verlor damals in der nationalen Auswahl gegen Leipzig. Auch nachfolgende Vorhaben scheiterten: Etwa eine mehrere hundert Meter lange Wohnbrücke, die den Kleinen Grasbrook mit der nördlichen Hafencity verbinden sollte oder ein Neubau der Hamburger Universität. Stets war es Ziel, das fortdauernde Wachstum der Stadt über die Elbe hinweg nach Süden springen zu lassen, dem Hafen dabei ein Stück Land abzuringen. Für Olympia 2024 sah man vor, auf der Elbinsel das Olympiastadion, die Schwimmhalle und andere wichtige Wettkampstätten sowie das Olympische Dorf und das Medienzentrum zu errichten. Nach 2024 hätte ein neues, barrierefreies Quartier mit 8000 Wohnungen in einer sozial verträglichen Mischung aus dem Olympiagelände erwachsen sollen.

Die ablehnende Haltung der Hamburger gegenüber Olympia mag nur in zweiter Linie auch eine Absage an diesen Entwicklungsplan gewesen sein. Das Referendum fand zum Zeitpunkt eines massiven Glaubwürdigkeitsverlusts des Spitzensports statt. Dafür sorgten das Bekanntwerden zahlreicher Dopingskandale, der Korruption in der Fifa und vermutlicher Absprachen bei der Vergabe der WM 2006.

Geplante Olympia City, Ostansicht bei Nacht, Grafik: KCAP | Arup | Vogt | Kunst+Herbert | gmp | Drees&Sommer | WES | ARGUS | bloomimages | on3studio | Luftbilder Matthias Friedel

Elbphilharmonie als abschreckendes Beispiel
Dabei hatten die Olympia-Befürworter eine große PR-Kampagne gestartet und bekamen Schützenhilfe von allen wichtigen lokalen Medien. Die gegnerische Seite verfügte über ungleich weniger Ressourcen, ihre Stimmen klangen nicht sehr konzertiert. Ihre Argumente waren aber in den sozialen Netzwerken präsenter und am Ende konnte sie den Sieg doch für sich verbuchen. Ihrer Sache half, dass das Internationale Olympische Komitee mittlerweile in der Öffentlichkeit eine nur wenig bessere Reputation als der Weltfußballverband genießt. In den vergangenen Jahren ist vor allem sein Katalog der Forderungen an die Austragungsorte zum Gegenstand einer immer schärferen Kritik geworden. Trotz seiner vermeintlichen Reform garantiert der Host City Contract der «IOC-Familie» neben einem luxuriösen Aufenthalt in der jeweiligen Gastgeberstadt weiter satte Gewinne und Steuerfreiheit, während die Kommune auf jeden Fall auf eventuellen Mehrausgaben sitzen bleibt.

Die Furcht vor einer Überteuerung der olympischen Infrastruktur war sicherlich mit ein Hauptmotiv für das Nein der Hamburger zu den Sommerspielen 2024. Als abschreckendes Beispiel für Prestigeprojekte, deren Kosten im Bauverlauf explodieren, haben sie ja die immer noch unvollendete Elbphilharmonie vor Augen. Der Senat meinte, mit fast 12 Milliarden Euro aber kein Olympia-Budget aufgestellt zu haben, das nur um der politischen Akzeptanz Willen unrealistisch kalkuliert worden sei. Bezugsgröße seien die Ausgaben Londons für die Sommerspiele 2012 gewesen. Hamburg wollte sich an der Vorbereitung und Durchführung von Olympia mit 1,2 Milliarden Euro beteiligen. 6,4 Milliarden Euro sollte der Bund beisteuern. Dieser verweigerte aber bis zum Referendum die konkrete Zusage eines Zuschusses, was aus Sicht der Olympia-Befürworter den Gegnern in die Hände spielte.

Im Vergleich zur Konkurrenz bei der Olympia-Bewerbung fiel die Gesammtsumme der Hansestadt tatsächlich recht hoch aus, doch zogen Kritiker einzelne Posten in Zweifel. Zum Beispiel sollten die Ausgaben für Sicherheit mit 500 Millionen Euro nur die Hälfte des entsprechenden Etats für London 2012 betragen. Gerade nach den Terroranschlägen von Paris erschien das Kritikern als viel zu niedrig angesetzt. Diese gingen von einer Verdreifachung der Summe aus. Die Umsiedlung der Hafenbetriebe mit rund 2000 Arbeitsplätzen vom Kleinen Grasbrook an andere Standorte entlang der Elbe sollte laut Olympia-Bewerbung mit 1,3 Milliarden Euro zu Buche schlagen. Auch dies hielten Experten für unrealistisch. Vertreter der Hafenwirtschaft forderten zwischenzeitlich eine Summe von 1,8 bis 2 Milliarden Euro. Unsicherheit herrschte auch darüber, wie sehr schließlich die Bodensanierung des Kleinen Grasbrooks zu Buche schlagen würde.

In Veddel stimmten über 70 Prozent mit «Nein»
Stellte sich das nautische Gewerbe nicht offen gegen die Olympiapläne, so fanden diese unter den Bewohnern der benachbarten Quartiere Veddel und Wilhelmsburg kaum Anklang. In sämtlichen Wahlbezirken südlich und östlich des Kleinen Grasbrooks sprach sich die Mehrheit der Stimmbürger gegen die Bewerbung aus, teilweise – wie im Veddel – mit einem Anteil von über 70 Prozent. Die Warnung mit dem Verweis auf frühere Gastgeberstädte wie Barcelona aber auch London, eine erfolgreiche Olympia-Bewerbung würde massive Gentrifizierungsprozesse in diesen Gegenden auslösen, fiel dort auf fruchtbaren Boden.

Mitte Februar soll laut Senat die Bewerbungsgesellschaft offiziell aufgelöst werden. Auf Antrag von SPD und Grünen in der Bürgerschaft wird nun geprüft, welches der 695 Olympia-Projekte auch ohne die Sommerspiele realisierbar sein könnten. Die nachträglich mit dem Olympia-Label etikettierten Quartiersentwicklungen werden weiter ihren vorgesehenen Gang gehen. Hamburgs Oberbaudirektor Jörn Walter bekräftigte, am mit der Wohnungswirtschaft vereinbarten Bau von jährlich 6000 Wohneinheiten ohne Abstriche festhalten zu wollen. Einer der räumlichen Schwerpunkte ist das Gebiet zwischen Hauptbahnhof und Mümmelmannsberg. Dort sollen innerhalb der kommenden zehn bis 15 Jahre bis zu 20.000 Wohnungen entstehen.

Moldauhafen in Hamburg, Prager Ufer am heutigen Übersee-Zentrum, Foto: von Marek Blahuš via Wikimedia Commons

Das im Vorfeld der Volksabstimmung noch als dringlich beworbene Projekt Kleiner Grasbrook ist vom Senat allerdings schnell wieder ad acta gelegt worden. Die Umsiedlung von Hafenfunktionen und die Aufbereitung des Areals sei zu kostspielig. Mit der möglichen Transformation des Kleinen Grasbrooks werde sich erst wieder die nächste Generation von Stadtplanern beschäftigen, so Walter.

Die jetzige Generation muss sich nun aber stärker mit dem Hafen auseinandersetzen. Denn die Fokussierung auf Olympia hat nach Meinung von Experten dazu geführt, dass die Zukunftssicherung von Hamburgs Wirtschaftsmotor sträflich vernachlässigt wurde. Der Hafen bekomme die ökonomischen Turbulenzen in China und Russland zu spüren und sei dabei, gegenüber den KonkurrentInnen Rotterdam und Antwerpen ins Hintertreffen zu geraten, stellen sie fest. Das hat auch Auswirkungen auf den Kleinen Grasbrook: Die Hamburger Hafen und Logistik AG (HHLA) will dort ihr Übersee-Zentrum, mit 10.000 Quadratmetern einst der größte Verteilschuppen für Stückgutladung der Welt, wegen Unrentabilität aufgeben. Der Betrieb schreibt seit einiger Zeit rote Zahlen. Bis ihr Pachtvertrag im Jahr 2025 ausläuft, will die HHLA die 1967 gebaute Halle an andere Interessenten vermieten. Vermutet wird auch, dass die HHLA-Tochter Unikai, die auf dem Kleinen Grasbrook unter anderem PKWs und Früchte umschlägt, in den Mittleren Freihafen umziehen könnte, um dort das Geschäft der Autoverladung auszubauen.

Wohlfahrtsstaatliche Kompetenzen verlernt
Die Zukunft des Kleinen Grasbrooks ist also weiter ungewiss, aber veraltete Strukturen finden sich auch an anderen Stellen im Hafen, der zudem unter Verschlickung leidet. Der Senat und die Hafenbehörde haben angekündigt, das Hafengebiet im Rahmen eines Entwicklungsplans völlig neu ordnen zu wollen. Ergebnisse dazu sollen noch im ersten Quartal 2016 vorgelegt werden. Zu erwarten ist, dass zum Beispiel der Abriss des Übersee-Zentrums auf die Agenda gesetzt wird. Aus der Opposition kommt derweil der Vorwurf, der Senat sei Getriebener der Entwicklung, der Universalhafen Hamburg drohe zu einer Containerschleuse degradiert zu werden, zumal im Mittleren Freihafen Ende des Jahres ein weiteres großes Terminal für den Stückgutumschlag dicht machen wird.

Die für die Spiele eingestellten 1,2 Milliarden Euro nun sowohl in den Hafen als auch in den Verkehr zu investieren, schlug Katja Karger, die Chefin des DGB Hamburg vor. Auch solle der Senat sich auf den sozialen Wohnungsbau konzentrieren. Denselben Elan, den er bei der Olympia-Bewerbung gezeigt habe, müsse er jetzt für die Behebung der sozialen Probleme der Stadt an den Tag legen, so Karger. Der Sozialverband Hamburg appellierte, das «olympische Geld» auch gegen Kinderarmut und Langzeitarbeitslosigkeit einzusetzen.

Selbst wenn der Senat entgegnet, dass er die 1,2 Milliarden Euro nicht im Safe des Rathauses habe, weil diese im Rahmen der Haushaltsplanung erst hätten erwirtschaftet werden müssen: In den nächsten Jahren wird eine Menge Geld notwendig sein, um die negativen Folgen einer Stadtplanung, die lange nur das Spektakuläre und Leuchtturmprojekte im Blick hatte, zu mildern. Für Druck in diese Richtung sorgt allein schon die hohe Zahl der neu angekommenen Flüchtlinge in Hamburg, die bis Ende 2016 auf bis zu 80.000 steigen könnte.

Während die Handelskammer vom Senat als Ausgleich für den Wegfall der Spiele ein Leitbild Wissenschaftsstandort Hamburg entwickelt sehen will und Vertreter der lokalen Immobilienbranche fordern, die ihrer Meinung nach zu flache Silhouette Hamburgs wenigstens mit einer Hochhausikone aufzupeppen, um Kapital aus Asien anzulocken, wird also ab sofort die scheinbar wenig glamouröse Kernaufgabe der Stadtplanung die Wiederentdeckung des Hafens, der soziale Wohnungsbau, und die Bereitstellung angemessener Infrastrukturen für die Neubürger sein. Insbesondere die letzten beiden Themenfelder erfordern Kompetenzen, die den Behörden im Zuge der Festivalisierung städtischer Politik zu einem Gutteil abhanden gekommen sind – und das übrigens nicht nur in Hamburg. Sie müssen nun mühsam wiedererworben werden. An Elbe und Alster steht dem zumindest Olympia nicht mehr im Weg.

Oliver Pohlisch ist Journalist, Kulturwissenschaftler und Mitglied des Berliner Zentrums für städtische Angelegenheiten, metroZones. Er arbeitet als Chef vom Dienst bei taz.de.