Zurück in die Zukunft ?

Ulf Meyer
25. November 2015
Beim «MoyaMoya»-Haus in Higashi-Kurume von Fumihiko Sano besteht die Fassade aus optischem «Nichts»

In einem Kommentar zu dem «Rundumschlag» schrieb Stefan Behnisch, der im Ausland vielleicht bekannteste zeitgenössische Architekt Deutschlands, dass in der Baukunst der «Starkult eher ein Phänomen des 20. als des 21. Jahrhunderts» sein könne. Allerdings spricht die Betrachtung der ersten 15 Jahre des neuen Jahrhunderts eine andere Sprache: Das Star(un)wesen scheint in der Welt der Baukunst weltweit zu florieren. Dass «die Strukturen der Büros, die Lebenspläne und Interessen der jüngeren Architektengenerationen anders» sind, wie Behnisch Junior vermutet, bleibt einstweilen eine Behauptung. Selbst im nahezu Star-losen Architektur-Deutschland belegen die örtlichen «Sternchen» und «B-Promis» alle vorderen Plätze der Bekanntheitsskalen und der öffentlichen Wahrnehmung. Beim neuesten BauNetz-Ranking beispielsweise findet sich kein einziges Architekturbüro, dass nicht personenzentriert ist. Hierzulande hält sich Architektur hartnäckig als nahezu exklusive Angelegenheit von weißen Männern über 40 – eine Pritzkerpreisträgerin wird Deutschland, anders als Japan es mit Kazuyo Sejima beispielsweise gelungen ist, noch viele Jahre oder vielleicht sogar Jahrzehnte lang wohl nicht hervorbringen. Das kulturelle Selbstbewusstsein der Nation gründet sich traditionell stark auf Musik, Literatur, auch Philosophie und bildende Kunst. Architektur kommt weder in der Kultur- noch in der Exportförderung vor. 

Sieg – oder Diktatur – des Mittelmaßes? 
Liegt die wahre Qualität der Baukultur in Deutschland also «in der Breite», der Ausführung, der Sicherheit? Eine durchgehende «Baukultur in der Breite» wäre es tatsächlich wert, auf öffentlichkeitswirksame «Spitzen» zu verzichten – allein, das Postulat, dass das eine das andere ausschließt, ist falsch. Man kann nicht nur Qualität in der Breite und in der Spitze zugleich haben, die beiden Aspekte bestärken einander sogar. Ohne Spitzen droht ein «ein Versinken im Mittelmaß». Überreglementierung und limitierende Vorschriften in Brand-, Wärme- und Umweltschutz schaffen Standards, die die Innovationskraft bremsen und auch befördern können. Kleinere Länder haben oft nicht die politbürokratischen Kapazitäten, derlei Anforderungswuste in Form zu gießen – und bauen deshalb noch lange nicht schlechter.  

Die zunehmende «Europäisierung» der Rechts- und Normsysteme hat bislang oft lediglich eine zusätzliche Polit- und Bürokratie-Ebene geschaffen, ohne einen wirklich durchgehend offenen, fairen und transparenten Markt für Architektenleistungen im ganzen Kontinent geschaffen zu haben. Die zunehmend europäische Binnensicht birgt eine Gefahr: Die Nabelschau des Berufsstandes wird nur auf der nächsten Ebene fortgesetzt, obwohl ganz Europa – weltweit betrachtet – rapide dabei ist, an Relevanz zu verlieren: Politisch, militärisch und wirtschaftlich sowieso, aber auch kulturell und künstlerisch – auch in Architektur und Städtebau. Kompetenz beim Bau lebenswerter Mega-Cities beispielsweise, weltweit wohl das dringendste Planer- Know-How überhaupt, ist in Deutschland naturgemäß kaum vorhanden: Im extrem poly-zentralen Deutschland gibt es schließlich nur eine einzige leidlich große Stadt, die jedoch im Vergleich zu London, Paris, Moskau und Istanbul winzig und im Vergleich zu den Riesen-Metropolen in Ostasien eine wahre Mikrobe ist. Da sich viele weltweit pressierende Probleme hier gar nicht stellen, entwickeln die örtlichen Architekten und Städtebauer auch vor Ort keine Lösungen.  

Zeitverständnis und Reglementierungswut
In Japan baut man nicht für die Ewigkeit, sondern meist nur für eine Generation. Die durchschnittliche Lebenserwartung beträgt etwa 23 Jahre. Das mag ökologisch und ökonomisch für deutsche Architekten mehr als befremdlich wirken, führt aber zu weniger Verkrampfung und mehr Mut in der Gestaltung. Denn wenn es im Sinne der Nachhaltigkeit zu sein scheint, dass man in Deutschland (vorgeblich) für die Ewigkeit baut, bedeutet dies auch, dass Fehler kaum revidiert werden können und lange Bestand haben. Die extrem niedrige «Home-Ownership-Rate» in Deutschland von sensationell niedrigen 53% (auf einem Level mit der Hochhaus-Mieter-Stadt Hongkong!) trägt ebenfalls dazu bei, dass (speziell) junge Architekten kaum kleinere, bürgerliche Bauherren finden können: Fast alle Bauherren hierzulande sind große Firmen oder Institutionen, die oft risikoscheu sind und nur mit «großen Namen» zusammenarbeiten wollen.

Die starre Gebührenordnung macht das Bauen mit Architekten so kostspielig, dass Bautypologien wie das Eigenheim aus dem Betätigungsfeld junger Architekten herausgefallen sind – dabei ist das «Behausen» die ursprünglichste Aufgabe der Baukunst und (nicht nur) für Berufsanfänger eine ideale Aufgabe und Gelegenheit, Erfahrungen zu sammeln.  
Die EnEV und andere – weltweit betrachtet extrem rigide – gesetzliche Rahmenbedingungen machen das Bauen in Deutschland so teuer, dass nur Vermögende sich ein freistehendes Eigenheim leisten kann. Mehr Platz als dem bauwilligen «Otto-Normalverbraucher» wird in unseren Städten dem parkenden Automobil zugestanden. In Japan hingegen ist das Parken auf öffentlichem Straßenland schlicht verboten. Wer ein Nummernschild beantragen will, muss einen Stellplatz an beiden Enden seiner Reise nachweisen – eine fast unüberwindliche Hürde in Japan. Diese einfache Regel hat ein städtisches Infrastruktursystem entstehen lassen, in dem man gern Bahn fährt und läuft. Und das voller Klein- und Kleinstgrundstücke ist, auf die junge (oder etablierte) Architekten kreativ Häuser schneidern können.

Wohnen ganz ohne EnEV: Osamu Nishidas Kanagawa Apartment House in Yokohama (Bild: Autor)

Deregulierung in Großbritannien 
Unklar ist der Mehrheit der deutschen Architekten wohl, ob Deregulierung ihrem Berufsstand eher Nutzen oder Schaden bringt – zu recht. Denn weil Architektur keine reine klassische Dienstleistung und damit Teil der freien Marktwirtschaft ist, könnte eine  Honorarfreisetzung gefährlich wirken. Dennoch haben Länder wie Großbritannien, die sich «gegen das geschützte System aus dem 19. Jahrhundert und für den wilden Westen», also die Deregulierung der Architektenhonorare entschieden haben, nicht nur schlechte Erfahrungen damit gemacht. Das Royal Institute of British Architects (RIBA) gibt heute lediglich noch Honorarempfehlungen aus, die Preise der Architektenleistungen sind aber frei verhandelbar. Das britische Äquivalent zur HOAI, die «fee scale», wurde auf ein DIN A 4 Blatt zusammen destilliert. Anders als in Deutschland hat das RIBA hingegen starken Einfluss auf die Ausbildung von Architekten und kann Hochschulen die Zulassung entziehen. Die Folge der Liberalisierung der Planerleistungen war zunächst eine stärkere Konzentration: Von den (nur!) 30'000 britischen Architekten arbeitet fast genau die Hälfte in einem der 3'000 größten Planungsbüros.

Martin Pawley, der bekannteste Architekturkritiker in London, meint, dass «alte architektonische Werte wie Dauerhaftigkeit und Besonderheit von Ort und Gestalt ebenso archaisch und irrelevant geworden sind, wie die überlieferten sozialen Wertvorstellungen von Gemeinschaft.» Derlei liberales Geklingel kennt man hierzulande (noch?) nicht. Wirtschaftlichkeit und gute Architektur sind schließlich nicht notwendigerweise ein Widerspruch – oft ganz im Gegenteil.  Der Blick über die Grenzen kann hilfreich sein, die eigene Position der deutschen Architektenschaft zu bestimmen und ihr Berufsbild neu zu definieren, bevor es andere tun: Eine Strategie könnte es sein, Nischen zu besetzen und das Berufsbild des Architekten zu erweitern – aber auch das Gegenteil, die Besinnung auf die Kernkompetenz des Architekten, das Entwerfen, wird von Experten propagiert. Eine «Flucht zurück nach vorn»? Die Rolle des Architekten als «König des unbegrenzten Raums» wie Charles Jencks es nennt, steht auf dem Spiel.  


Ulf Meyer hat in Berlin und Chicago Architektur studiert. Er arbeitete bei Shigeru Ban Architects in Tokyo und unterrichtete an der Kansas State University, der University of Nebraska-Lincoln und der Tamkang University in Taiwan. Heute lebt und arbeitet Meyer als Architekturjournalist in Berlin.