Architekturdebatte in Großbritannien

Dank Brexit in die Vormoderne

Oliver Pohlisch
29. November 2016
(Bild: Ivan Bandura via wikimedia commons)

Bisher waren es überwiegend ökonomische Gründe, die die Architekten auf der Insel für ihre ablehnende Haltung gegenüber dem Brexit-Votum anführten. Vor allem die ungewisse Zukunft ihrer nicht-britischen, vom Kontinent stammenden Mitarbeiter bereitet ihnen Sorge. Deren Wegfall aufgrund des Endes der Personenfreizügigkeit würde ebenso einen wirtschaftlichen Verlust für die Architekturbüros in London, Manchester oder Glasgow bedeuten wie ein eingeschränkter Zugang zu Wettbewerben in der EU.

Mark Leeson, Design-Direktor bei Mc Bains Cooper, einer international operierenden Immobilien- und Bauberatungsfirma, hat nun auf der Online-Plattform CityMetric explizit die Furcht artikuliert, dass der Austritt Großbritanniens auch einen ästhetischen Rückschritt nach sich ziehen könnte. Mit einem Ende der kulturellen Diversität in den Architektenteams sei die Hegemonie der einheimischen Moderne nicht mehr sicher. Angesichts des wiedererstarkenden Nationalismus könnte stattdessen wieder auf Backstein und Holz zurückgegriffen werden – als «architektonische Nervennahrung in unsicheren Zeiten».

Ein gewisser Konservatismus sei den Untertanen ihrer Majestät ja quasi in die DNA eingeschrieben, so Leeson. Nur so lasse sich die ungebrochene Popularität der georgianischen, viktorianischen und edwardischen Epoche unter den Käufern von Immobilien im Königreich erklären.

Leeson mag in den Reihen der einheimischen Architekten zu seiner eigenen Beruhigung derzeit niemanden erkennen, der, politischen Einflüsterungen gehorchend, einem ästhetischen Revisionismus frönen würde.Vorsichtshalber appelliert er aber an den Berufsstand, für Einflüsse von außen offen zu bleiben. Wobei die Prinzipien, denen er die nationale Baukultur verpflichtet sehen möchte, so vage formuliert sind, dass sie auch von reaktionär gestimmten Geistern unterzeichnet werden können.

Sehnsucht nach Harmonie

Von John Hayes zum Beispiel, der so klingt, als wolle er Leesons Sorge doch mit aller Macht bestätigen. Anfang November verkündete der Staatssekretär für Transport im Tory-Kabinett von Premierministerin Theresa May, seine Regierung wolle zur «Vorhut einer Renaissance der Architektur» werden. Und wie will sie das anstellen? In dem sie den 1837 im dorischen Stil erbauten Torbogen wiedererrichtet, der einst den Eingang der Euston Station in London bildete, bevor er 1962 für einen modernistischen Bahnhofsneubau abgerissen wurde, so Hayes. Euston Station soll demnächst im Zuge der Errichtung einer neuen Schnelltrasse einer umfassenden Neugestaltung unterzogen werden.Eine Bürgerinitiative wirbt für die Rekonstruktion des Torbogens.

Thomas Roscoe: The London & Birmingham railway. Pub. Charles Lilt. (1838). (Bild: lhldigital.lindahall.org via wikimedia commons)

Hayes begründete die geplante klassizistische Revision mit der «Sehnsucht der breiten Öffentlichkeit nach Harmonie». Moderne Architektur sei dagegen nicht beliebt, behauptete er. Eine unverhohlene Generalisierung seines persönlichen Geschmackurteils, fügte er doch noch hinzu, die überwältigende Mehrheit der öffentlichen Gebäude, die in seiner bisherigen Lebenszeit errichtet worden sind, seien ästhetisch wertlos, weil häßlich. Insbesondere den Brutalismus hat Hayes auf dem Kieker. Dessen Erben würden noch heute täglich neuen Horror planen und bauen, raunte er.

Der zukünftige Präsident des Royal Institute for British Architects, Ben Derbyshire, begegnete der Tirade mit typisch britischer Zurückhaltung: Auf jeden Staatssekretär, der einen bestimmten architektonischen Stil bevorzuge, käme ein anderer mit einem komplett entgegengesetzten Standpunkt, so Derbyshire. Er nannte Hayes' Einlassungen interessant, betonte aber, dass britische Designer je nach Kontext und Erfordernissen in den vergangenen Jahren weltweit überzeugende Beispiele sowohl moderner als auch an älteren Traditionen orientierte Architektur im Transportwesen, also auch im Zuständigkeitsbereich von Hayes, verantwortet hätten.

Die Wiederentdeckung des Brutalismus

Gerade eben erst ist das irische Büro Grafton Architects zusammen mit Shell Arquitectos mit dem ersten RIBA International Price für den Neubau der Ingenieur- und Technikhochschule UTEC in Limas Hauptstadt Peru ausgezeichnet worden – ein Entwurf in bester Kontinuität zum Brutalismus. Überhaupt erfährt der nach einer langen Phase der diskursiven Abwertung in Großbritannien gerade eine Wiederentdeckung. Einige herausragende Beispiele dieses Stils, der in den 6oer und 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts von Architekten wie Bruno Ahrends, Alison und Peter Smithson, Denys Lasdun oder Ernö Goldfinger gepflegt wurde, sind unter Denkmalschutz gestellt worden.

Für einen Beitrag in der London Review of Books hat Owen Hatherley die mannigfaltige Literatur rezensiert, die in jüngster Zeit über diese raue, betonschwere, kompromisslose und ihre Funktionen nicht verbergende Architektur erschienen ist. Hatherley beklagt, dass die unbestreitbare Fotogenität des Brutalismus sich in diesen Publikationen oftmals zu sehr in den Vordergrund schiebe. Auf Kosten der Darstellung des zeitgeschichtlichen und politischen Kontexts. Den nicht selten aus der Arbeiterklasse stammenden Vertretern des Brutalismus ging es im wesentlichen um eine adäquate bauliche Manifestation der wohlfahrtsstaatlichen Utopie. Meist waren es große Sozialkomplexe, die in diesem Stil errichtet wurden. Und gerade sie sind auch heute vom Abriss bedroht – siehe das Beispiel des von Alison und Peter Smithson entworfenen Ensembles Robin Hood Gardens im Londoner East End.

Robin Hood Gardens im Londoner East End. (Bild: stevecadman via wikimedia commons)

Sozialer Wohnungsbau – den möchte Patrik Schumacher, der nun alleinige Inhaber von Zaha Hadid Architects, abgeschafft sehen, ebenso wie bindende Planungsvorschriften seitens der öffentlichen Hand. In seiner Keynote während des World Architecture Festivals vergangene Woche in Berlin forderte er stattdessen die Aushändigung ganzer Straßen, Plätze und Parks an freie Unternehmer.

Schumachers an der Spree verkündete Botschaft zielte ganz klar auf seinen Wohn- und Arbeitsort London. Der in seinen Augen unternutzte Hyde Park könne mit einem komplett neuen Quartier überbaut werden, visonierte Schumacher und zeichnete eine geradezu darwinistische Zentrumslogik, nach der letztendlich nur die «ökonomisch potentesten und produktivsten Nutzer» das Recht hätten, in der Stadtmitte zu residieren.

Auf «postfaktischem Terrain»

Seit dem Tod von Unternehmenspartnerin Zaha Hadid exponiert Schumacher sich immer stärker als Polemiker in der Architekturdebatte. Hadid hätte seine marktradikalen Positionen nicht geteilt, gibt er gegenüber dem Guardian-Journalist Oliver Wainwright zu, sondern sich über diese lustig gemacht. Im übrigen würde er selbst gerne eine Trennung ziehen zwischen seiner Rolle als Theoretiker und der als Firmeneigentümer, der pragmatischer handeln würde und inzwischen auf Facebook verlauten ließ, auch in Zukunft keinen Auftrag zum Bau von Sozialwohnungen abschlagen zu wollen.

Wainwright zweifelt an dieser Trennschärfe, würde doch die globale Bekanntheit von Zaha Hadid Architects Schumacher bei der Verbreitung seiner steilen Thesen dienlich sein. Aber letztlich ist Wainwright sich auch nicht sicher, ob Schumacher tatsächlich selbst an all das glaube, was er als neuer «öffentlicher Intellektueller» derzeit vom Stapel lässt. Schumachers «Gedankenexperimente», so Wainwright, hätten zwar den gesunden Effekt, die linksliberale Attitude des Berufsstands aus der eigenen Echokammer rauszuholen, seine Rhetorik bewege sich aber doch sehr oft auf «postfaktischem Terrain» – weswegen er auch schon den Spitznamen «Trump der Architektur» verpasst bekommen hat.

Zumindest scheint die Rhetorik widersprüchlich: Der Architekt hat sich nämlich auch als Befürworter des Brexit zu erkennen gegeben, wie German-architects berichtete. Der von ihm so gepriesene anarcho-libertäre Kapitalismus kann aber in seiner Reinform mit nationalistisch orientierem Protektionismus eigentlich wenig anfangen. Diese beiden anti-egalitären Ideologien doch irgendwie miteinander kurzschließen – das sollte man ihm nicht erlauben, sondern stattdessen lieber rufen: Herr Schumacher, bleiben Sie bei Ihren Leisten.
Sowohl die Verwalter des Nachlasses von Zaha Hadid als auch die Mitarbeiter von Zaha Hadid Architects haben das im übrigen mittlerweile getan und sich von seinen Berliner Äußerungen ziemlich deutlich distanziert.