Farbe in die JVA

Autor:
Thomas Geuder | Praxis
Veröffentlicht am
Aug. 25, 2015

Humaner Strafvollzug und optimale Arbeitsbedingungen für das Personal: Wie viel Farbe Architektur verträgt, ohne bunt zu werden, zeigen die Planer von Hohensinn Architektur bei der JVA Heidering bei Berlin.
Einzig der Bereich der Pforte ist bei der JVA Heidering mit einer Mauer gesichert, ansonsten garantiert ein Doppelzaun zumindest für den Blick in die Ferne. (Foto: Johannes Seyerlein / Brunner) 
Ob Architektur nun der neutrale Hintergrund für die Nutzer und deren Nutzung sein oder ob sich Architektur als Baukunst klar zur Farbe bekennen sollte, darüber diskutieren bereits Generationen von Architekten und Architekturtheoretikern, nicht erst seit der Klassischen Moderne. Folglich schlägt der Trend-Zeiger denn auch immer mal in die eine oder in die andere Richtung aus, ohne wohl jemals zu einem allgemeingültigen Ergebnis zu kommen. Fragt sich also, ob eine derartig allgemeingültige Antwort überhaupt vonnöten ist! Schließlich hängt die Verwendung von Farbe in der Architektur vor allem von der Bauaufgabe ab. Es ist eben ein Unterschied, ob man etwa einen Kindergarten oder eine Bank baut. Ähnliche Diskussionen werden die Planer von Hohensinn Architektur aus Graz geführt haben, als sie die Justizvollzugsanstalt Heidering in der Gemeinde Großbeeren, nur wenige Kilometer südlich von Berlin, entwarfen. Denn hier ist ein Gebäude-Ensemble entstanden, bei dem auf das glückliche Zusammenspiel von Farbe und Nicht-Farbe großen Wert gelegt wurde.
Mit authentischen Farben an der Fassade sollen sich die Gebäude in die Landschaft einfügen und mit Natur und Umgebung korrespondieren. (Foto: Johannes Seyerlein) 
Das formale bzw. räumliche Entwurfskonzept der Architekten ist geprägt von einer ökonomischen Herangehensweise – geringe Erdbewegungen durch Berücksichtigung der Topographie, kompakter Baukörper, geringe Weglängen, kurze Außensicherheitslinien – und der Schaffung räumlicher Voraussetzungen für eine sicheren, humanen Strafvollzug sowie von optimalen Arbeitsbedingungen. So fungiert im Zentrum die sogenannte «Vollzugsmagistrale» als zentrales Verteiler- und Bindeglied aller Teile der JVA in Ost-West-Richtung. Südlich davon sind die Arbeitsstätten sowie Kultur- und Freizeiteinrichtungen untergebracht. Nördlich, aufgrund des Geländeverlaufs etwas höher gelegen, befinden sich die drei X-förmigen, dreigeschossigen «Teilanstalten». Hier sind die insgesamt rund 650 Insassen in Wohngruppen von jeweils 18 Personen pro Gebäudearm untergebracht, mit raumhoch verglasten «Gassen» als persönlicher Rückzugsbereich zwischen den Einzelzellen und zentralen Platzsituationen für die vier Wohngruppen je Geschoss. Zwischen den Gebäuden entstehen unterschiedliche Höfe zur Erholung oder für sportliche Aktivitäten.
Die «Vollzugsmagistrale» verbindet als überdachter Glasgang alle Teile der JVA und ist so zentrales Verteiler- und Bindeglied. (Foto: Johannes Seyerlein) 
Die Gebäude sind konstruktiv zwar aus Stahlbeton gefertigt, um die Assoziation mit einem «grauen Haus» jedoch schon in der Ansicht zu vermeiden, wurden die Fassaden mit Glasfaserbetonplatten (fibreC) in den fünf Farbtönen Terrakottoka, Sandstein, Elfenbein, Mocca und Bianco verkleidet, angelehnt an die umgebende Landschaft. Eine zusätzliche Variation entsteht durch die drei verschiedenen Oberflächenbehandlungen: glatt und zwei verschieden intensive Sandstrahlungen. Die Verteilung der Farben auf den Fassaden orientiert sich an der Funktion der Gebäude (s. Farbkonzept), die verschiedenen Oberflächenbehandlungen wurden innerhalb dieser Farbwelten untereinander kombiniert, um eine lebendige Struktur und ein Wechselspiel der Schattierungen zu erzeugen. Im Sinne eines humanen Strafvollzugs soll das einer Eintönigkeit durch gleichförmige Fassaden entgegenstehen und für einen freundlichen Gesamteindruck sorgen.
Im Bereich der Gemeinschaftsküchen erweitern sich die «Gassen» zwischen den Einzelzellen zu hellen Aufenthaltszonen. (Foto: Johannes Seyerlein / Brunner) 
Auch im Innenraum spielt die Farbe eine wichtige Rolle: So sind hier den verschiedenen Bereichen eigene Farbkonzepte zugeordnet, die sich bauseitig zunächst im Bodenbelag der Gemeinschaftsbereiche wiederfinden. Dazu korrespondierend wurden die Sitzmöbel (Brunner) ausgewählt, bei der entweder nur die Rückseite oder der gesamte Stuhl bzw. Sessel dem Farbraum angepasst ist. So sind die etwa die Hafträume und die der Wohneinheiten mit einem Kunststoffstuhl in den kräftigen Farben Petrol, Viola und Apple ausgestattet. Der Speisesaal mit kräftig grünem Boden ist mit weißem Mobiliar ausgestattet. In den Besucherbereichen schaffen zweifarbige Stühle, Barhocker und Stehtische eine freundliche Atmosphäre für die Begegnungen mit den Angehörigen. Stets dominiert in einem Raum eine bestimmte Farbe, damit der Raumcharakter nie bunt wird, sondern eben immer nur farbig bleibt. Das erreichen die Architekten durch eine geschickte farbliche Kombination an Boden und Möbeln. Der einzige Bereich, in dem es weitgehend farblos zugeht, ist die verglaste Vollzugsmagistrale, in der dafür vor allem der Außenraum und die Natur ihre Wirkung entfalten sollen. tg
Auf den kräftig grünen Boden im Speiseraum reagieren die Architekten mit einer farblosen, hellen Möblierung. (Foto: Johannes Seyerlein / Brunner) 
Für den Andachtsraum erhielt der Kufenstuhl fina eine Vorderseite aus weißem HPL und eine Rückseite – passend zum Boden – in Deckfurnier Eiche hell gebeizt. (Foto: Johannes Seyerlein / Brunner) 
Die Farben der Kunststoffstühle in den Hafträumen sind passend zum Farbkonzept der jeweiligen Teilanstalt gewählt – hier in Viola. (Foto: Johannes Seyerlein / Brunner) 
Lageplan (Quelle: Hohensinn Architektur) 
Schnitte (Quelle: Hohensinn Architektur) 
Eine unterschiedliche Oberflächenbehandlung soll eine lebendige Fassadenstruktur mit einem Wechselspiel an Schattierungen erzeugen. (Foto: Johannes Seyerlein) 
«Wir haben Farben aufgenommen, die in der Umgebung vorkommen», erläutern die Planer von Hohensinn Architektur ihr Farbkonzept. (Foto: Johannes Seyerlein) 
Projekt
Justizvollzugsanstalt Heidering
Großbeeren, D

Architektur
Hohensinn Architektur
Graz, AT

Projektleitung: DI Irene Falkner, DI Bernd Schittelkopf
Mitarbeiter: Kernteam DI Giulio Cosi, Raimund Gsellmann, DI Evelyn Mayer (Ausstattung)

Hersteller
Brunner GmbH
Rheinau-Freistett, D

Kompetenz
Kunststoffstuhl twin
Kufenstuhl fina
Stapelstuhl linos
Sessel finalounge
Barhocker we-talk
Stehtisch torino

Weitere Hersteller
Fassaden: Rieder Smart Elements GmbH, Maishofen, AT
Kompetenz: fibreC

Bauherr
Land Berlin
vertreten durch: Senatsverwaltung für Stadtentwicklung – Abteilung V – Hochbau
Berlin, D

Projektsteuerung
SPM Stein Projektmanagement
Düsseldorf, D

Freianlagenplaner
Lützow 7
Berlin, D

Fachplanung ELT / HLS / SI / KÜ / MED
Ingenieurbüro Rathenow BPS GmbH
Dresden, D

Tragwerksplanung
Ruffert & Partner Ingenieurges. f. Tragwerkspalnung mbH
Berlin, D

Brandschutzkonzept
Müller_BBM GmbH
Berlin, D

Bodengutachter
Baugrundinstitut Franke-Meißner-Berlin Brandenburg GmbH
Berlin, D

Vermesser
DI Thomas Jacubeit
Falkensee, D

Bauphysik/Akustik
ABIT Akustik- u. Bauphysik Ingenieurgesellschaft Dr. Trautmann mbH
Teltow, D

Bauleitung/Ausschreibung
Ingenieurbüro Peter Widell
Berlin, D

SiGe Koordinator
THURM Sicherheitstechnik
Berlin, D

Fertgstellung
Ende 2012

Fotografie
Johannes Seyerlein
Brunner



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