Architektur 4.0

Carsten Sauerbrei
28. June 2017
BIM-Modell der Bewehrungseisen im Inneren einer Kelchstütze des neuen Stuttgarter Tiefbahnhofs (Bild: Werner Sobek, Stuttgart)

Digital ist besser, so sang bereits 1995 die Indie-Rock-Band «TOCOTRONIC» in ihrem Loblied auf die digitale Zukunft. Und schon in den 1980er-Jahren begannen CAD-Programme, die Zeichenschiene in Architektur- und Ingenieurbüros abzulösen. Jetzt, mehr als 20 Jahre später, vollzieht sich in Deutschland der nächste Paradigmenwechsel: Der Umstieg von einem digital unterstützen 2-D-Planungsprozess auf eine komplett digitale, 3-D-basierte Prozesskette, angefangen beim Entwerfen, über die Planung, bis hin zur Ausführung. Sichtbar wird dieser Wandel unter anderem am vom Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt Anfang 2017 vorgelegten Masterplan «Bauen 4.0», aber auch am von der Bundesarchitektenkammer im Herbst 2016 mitherausgegebenen BIM-Handbuch «BIM für Architekten: 100 Fragen – 100 Antworten». In diesem Beitrag stellen wir drei deutsche Büros vor, die als Pioniere den digitalen Wandel in Architektur und Bauwesen federführend gestalten und dessen Chancen und Risiken ausloten.

Analoge und digitale Skulpturalität 

J. MAYER H. und Partner mit Sitz in Berlin ist eines der deutschen Architekturbüros, die sich in ihrer Arbeit intensiv mit der voranschreitenden Digitalisierung beschäftigen. Fragt man Jürgen Mayer H nach dem Einsatz von digitalen Werkzeugen im Entwurf, fällt die Antwort jedoch nicht so eindeutig aus, wie man es erwarten könnte. «Wir entscheiden bei jedem Projekt immer wieder neu, wann analoge oder digitale Werkzeuge besser für den Entwurfsprozess geeignet sind», sagt er. Architektur ließe sich eben nicht nur am Computer verstehen, sondern manchmal besser bei der Arbeit am traditionellen Arbeitsmodell. 

Die Fassade des Apartmenthauses in der Berliner Johannisstraße entstand auf Grundlage eines parametrischen Modells. (Bild: P. Parinejad)

Allerdings benutzt auch Jürgen Mayer H. spätestens in der Planungsphase digitale, oftmals parametrische Gebäudemodelle. Deren Vorteil sei das bessere Erfassen komplexer Rahmenbedingungen und die Möglichkeit, leichter und schneller Visualisierungen, Animationen sowie Änderungen zu erstellen, schildert er seine Erfahrungen. «Building Information Modeling» spiele dagegen erst jetzt eine zunehmend wichtiger werdende Rolle.

Die parametrisch geplante Lamellenfassade sollte Schutz vor Einblick und gleichzeitig optimalen Ausblick ermöglichen. (Bild: Ludger Paffrath)

Das 2012 fertiggestellte Apartmenthaus in der Berliner Johannisstraße 3 ist eines der Projekte, das bei J. MAYER H. und Partner mithilfe eines parametrischen Gebäudemodells entstand. Die Glasfassade des Gebäudes sollte dabei mit einer auf die sehr unterschiedlichen Wohnungsgrundrisse und die angrenzende Nachbarbebauung abgestimmten Lamellenfassade vor Einblicken geschützt werden. Gleichzeitig sollten die Bewohner maximalen Ausblick haben. Das Ergebnis dieser Abhängigkeiten bildete das parametrische Fassadenmodell ab, indem es den Wohnraum anhand verschiedener Diskretionsgrade – von intim bis exponiert – zonierte und damit die Grundlage für die Formfindung lieferte.

Das Diagramm zeigt die verschieden starken Diskretionsgrade der Straßenfassade in Abhängigkeit von Länge und Wölbung der Lamellen. (Bild: J. MAYER H. und Partner)

Auf dieser Basis sei die Entwurfsentscheidung über die genaue Lage und Form der Aluminium-Lamellen mittels der abwechselnden Nutzung von analogen und digitalen Medien getroffen worden, erklärt Jürgen Mayer H den Prozess der Formfindung. Anschließend habe man die Architekturdaten in Fertigungsdaten übersetzen lassen, die dann direkt an die ausführende Metallbaufirma weitergegeben wurden. Mit seinem aktuellen Projekt, dem Hochhaus «Rhein 740» in Düsseldorf ergänzt Jürgen Mayer H. diese Vorgehensweise noch um einen Rückkopplungsprozess zwischen Architekten und Ingenieuren, um die Fassade auch hinsichtlich einer wirtschaftlichen Ausführung zu optimieren.

Die Fassade des Hochhauses «Rhein 740« wurde ebenfalls mit Hilfe eines parametrischen Modells entwickelt. (Bild: J. MAYER H. und Partner)

BIM at its best 

Parametrisches Entwerfen und Building Information Modeling spielen nicht nur für Architekten, sondern mindestens ebenso lange schon für deutsche Bauingenieure eine entscheidende Rolle im Planungsalltag. Das bestätigt auch Roland Bechmann, Vorstand und Partner von Werner Sobek – Engineering & Design, Stuttgart im Gespräch über das Thema und fügt hinzu: «Vorreiter in Sachen 3-D-Planung war 2006 das Mercedes-Benz-Museum. Seit acht bis zehn Jahren setzten wir jetzt regelmäßig digitale 3- D-Planung ein. Seit fünf Jahren wird bei uns jedes Projekt mit BIM bearbeitet.»

Visualisierung des ThyssenKrupp-Testturms in Rottweil, bei dem BIM bereits im Wettbewerb Anwendung fand. (Bild: Werner Sobek, Stuttgart)

Für Roland Bechmann liegt der Vorteil der konsequenten Anwendung digitaler 3-D-Planung klar auf der Hand. Früher habe man bei Planänderungen immer den Architekten hinterhergezeichnet. Heute würden Änderungen automatisch übernommen, sagt er. «Durch die größer werdende Komplexität von Projekten ist es außerdem einfach notwendig geworden, interdisziplinär an einem gemeinsamen, digitalen Gebäudemodell zu arbeiten», fügt er hinzu.

Das Dach des neuen Stuttgarter Tiefbahnhofs ruht auf Kelchstützen, deren komplexe Geometrie ohne BIM nicht zu realisieren gewesen wäre. (Bild: ingenhoven architects, Düsseldorf)

Dass die Planer der Werner Sobek Group dabei BIM in einem Umfang in ihren Planungsprozess integrieren wie kaum ein anderes deutsches Büro zeigt unter anderem die zweimalige Auszeichnung im Rahmen des «BIM Award 2016», darunter eine für den ThyssenKrupp-Testturm in Rottweil, den sie gemeinsam mit JAHN Architects aus Chicago entwickelten. «Wir haben schon im Wettbewerb mit der ausführenden Firma Daten ausgetauscht», so beschreibt Bechmann wie früh die interdisziplinäre Zusammenarbeit begann. Damit hätten sie dem Bauherrn jederzeit eine sichere Kostenschätzung präsentieren und mit Hilfe von BIM-basierten Montagefortschrittsplänen die komplexe Terminplanung mit der ausführenden Firma abstimmen können. 

Die Planer von ingenhoven architects, Düsseldorf und Werner Sobek, Stuttgart arbeiten beim Projekt «Stuttgart 21» an einem gemeinsamen BIM-Gesamtmodell. (Bild: Werner Sobek, Stuttgart)

Noch einen Schritt weiter als beim ThyssenKrupp-Testturm geht die BIM-Anwendung beim Projekt «Stuttgart 21», bei dem die Tragwerksplaner von Werner Sobek gemeinsam mit ingenhoven architects an einem dreidimensionalen Gesamtmodell arbeiten. «Normalerweise hört BIM bei dem Detaillierungsgrad der Schalplanung auf. Hier jedoch haben wir erstmals auch die Lage der Bewehrungseisen mit BIM festgelegt», beschreibt Roland Bechmann die Planungsinnovation. Mit der Baufirma hätte es, so wie auf anderen Detaillierungsebenen auch, einen mehrstufigen Optimierungsprozess auf Basis einer parametrischen Clash-Control gegeben, sagt Bechmann und fügt hinzu: «Das war bei der komplexen, in 2-D-Plänen nicht darstellbaren Geometrie einfach notwendig.» 

Selbst für die Lage der Bewehrungseisen nutzten die Tragwerksplaner und ausführende Baufirma BIM. (Bild: Werner Sobek, Stuttgart)

Digitale Vernetzung 

Nicht allein nur zur Effizienzsteigerung benutzt das Architekturnetzwerk LAVA mit Standorten in Berlin, Stuttgart und Sydney digitale Entwurfs- und Planungswerkzeuge. Ausgehend von deren spezifischen Möglichkeiten sind die Architekten des Netzwerks darüber hinaus auch an einem neuen Architekturverständnis interessiert.. Da überrascht es nicht, wenn Tobias Wallisser, zusammen mit Alexander Rieck und Chris Bosse Partner bei LAVA, auf die Frage nach der Bedeutung digitaler Werkzeuge antwortet: «Wir entwerfen nur digital.» Zuerst entstünde immer das digitale Modell und erst später würden daraus Pläne generiert. 

LAVA entwickelte die Form der «Solarladestation Point.One» nach dem Vorbild eines Blattes. (Bild: LAVA)

«Uns interessiert insbesondere die Vernetzung entlang der digitalen Prozesskette», betont Tobias Wallisser. Also ein möglichst ununterbrochener digitaler Arbeitsablauf, vom Entwerfen bis zur Ausführung. Als großen Vorteil solch einer digitalen, vernetzten Planung sieht er die Möglichkeit, schon in der Entwurfsphase Rückmeldungen von Ingenieuren oder ausführenden Firmen zu Wirtschaftlichkeit, Umsetzbarkeit oder Materialeffizienz zu bekommen und darauf reagieren zu können.

Das komplexe, zweifach gekrümmte Tragwerk gibt der Solarladestation ein markantes Erscheinungsbild Bild: LAVA

«Digitale Planung kann eine größere Komplexität abbilden, mehr gestaltungsrelevante Daten verarbeiten und damit bessere Lösungen erzielen», fasst Wallisser seine Erfahrungen zusammen. Am Beispiel des Entwurfs einer neuen Markthalle für das Frankfurter Flughafenterminal T3 wird deutlich, wie er das meint. «Dort haben wir Parameter wie Sichtachsen, Lichteinfall und Wegeführung miteinander verknüpft und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass fließende Formen an Stelle des herkömmlichen 90-Grad-Winkels nicht nur die Bewegungen der Käufer besser lenken, sondern auch den Grundriss intensiver nutzen», erläutert er das Konzept. 

Für das komplexe Tragwerk der Solarladestation entwickelte LAVA ein leicht montier- und rückbaubares sowie wirtschaftliches Stecksystem. (Bild: LAVA)

Tatsächlich setzt LAVA bis hin zur Ausführung von Projekten auf digitale Technik und ist damit, abgesehen von den Stuttgarter Forschungspavillons des ITKE und ICD oder Einzelprojekten anderer Büros, immer noch eine Ausnahme in Deutschland. Die 2014 fertig gestellte «Solarladestation Point.One» in München ist ein gutes Beispiel für CAM, die Fertigung mit Computerunterstützung. Für deren zweifach gekrümmtes, komplexes Tragwerk entwickelte LAVA, gemeinsam mit Arnold Walz von designtoproduction Germany, ein leicht montier- und rückbaubares sowie wirtschaftliches Stecksystem. Die einzelnen Teile des Systems trennte ein Laserschneider automatisch aus ebenen Aluminiumblechen heraus, auf der Grundlage von Maschinendaten, die direkt aus den 3-D-Datensätzen des parametrischen Architekturmodells abgelesen wurden.

Die einzelnen Teile des Stecksystem trennte ein Laserschneider automatisch aus ebenen Aluminiumblechen heraus. (Bild: LAVA)

Chancen und Risiken

Die stetig voranschreitende Fortentwicklung digitaler Arbeitsmethoden besitzt großes Potential, Entwurfs-, Planungs- und Bauprozesse effizienter, sicherer und nachhaltiger zu gestalten. Auch ästhetisch ergeben sich neue Möglichkeiten, wenn komplexe Geometrien mit digitalen Werkzeugen kostengünstiger realisiert werden können. Abgesehen von bisher nur unzureichend beantworteten Fragen wie die nach veränderten Leistungsabfolgen, Honorierung oder dem Datenschutz, weisen jedoch sowohl Jürgen Mayer H. als auch Roland Bechmann übereinstimmend auf ein Risiko der Digitalisierung hin – und zwar sei das der Irrtum, gute Entwurfsarbeit lasse sich komplett durch digitale Prozesse ersetzen.