Azaleen im Olympiastadion

Ulf Meyer
13. June 2018
Am Tokyo-Tower wird die Zeit zurückgezählt bis zum Beginn der Spiele (Bild: t-mizo [CC BY 2.0], via Wikimedia Commons)

Eine stabile Demokratie und eine florierende Volkswirtschaft zu haben – das waren die glücklichen Rahmenbedingungen, in denen Japan nach dem verheerenden Zweiten Weltkrieg als Ausrichter der Olympischen Sommerspiele im Jahr 1964 der Welt seine Rückkehr in die Spitzenmannschaft der angesehensten und reichsten Nationen präsentierte – ganz wie die Bundesrepublik Deutschland mit den Spielen in München acht Jahre später. Vom Kriegsverbrecher zum Musterknaben in nur einer Generation – das war ein nahezu olympischer Rekord. Die japanische Hauptstadt wurde für die Spiele 1964 vollständig umgekrempelt und erlebte einen enormen Modernisierungsschub, der die größte Metropole der Welt noch heute prägt: Anstelle der Straßenbahnen traten U-Bahnen, Monorail-Linien und aufgeständerte Stadtautobahnen, während der neu eingeführte Shinkansen-Hochgeschwindigkeitszug die ganze Berg-Nation erstmals mit kurzen Reisezeiten und höchstem Komfort an die Hauptstadt anband.

Die metabolistische Architektur der Sechziger Jahre gab dem wirtschaftlichen Boom und der galoppierenden Binnenmigration ihren baulichen Ausdruck. Keiner anderen asiatischen Nation war es bis dahin gelungen, eine genuine Variante der modernen Architektur hervorzubringen.
Heute, 52 Jahre später, grassiert in Japan hartnäckige wirtschaftliche Stagnation. Eine schnell alternde und zahlenmäßig schrumpfende Gesellschaft fühlt sich von ihren dynamischen und immer selbstbewusster werdenden Nachbarn China, Süd-Korea und Taiwan verfolgt. Als erste Stadt in Ostasien, die die Olympischen Spiele ausrichten durfte, ist Tokyo nun – nach Seoul und Beijing – als erste Stadt an der Reihe, diese Rolle ein zweites Mal zu spielen. Spätestens seit den Spielen in Barcelona ist es Usus, dass die Gastgeberstädte nicht nur viel Aufwand in große Stadien und Infrastrukturen investieren wollen, die nach den Spielen kaum mehr genutzt werden, sondern die Gelegenheit zu nutzen, die Stadt nachhaltig zu ihrem Vorteil zu verändern. Tokyo möchte die Ausrichtung des Großereignisses nutzen, um an die städtebaulichen Pläne der 1990er-Jahre wieder anzuknüpfen – und die sahen eine Erweiterung der Stadt in die Tokyo Bay hinein vor. Doch seit dem Platzen der wirtschaftlichen „Blase“ im Jahr 1990 lagen die Pläne brach, die Metropole auf menschengemachte Inseln wie Odaiba und Ariake zu erweitern. Die Gefahr besteht jedoch, dass die Baukräne, die sich gegenwärtig auf den künstlichen Inseln in der Tokyoter Bucht drehen, nur Sportstätten ohne starken, bleibenden architektonischen Ausdruck errichten – kostengünstiges Mittelmaß. Den sieben Sportstätten in der Innenstadt stehen 21 in der Bucht gegenüber.

Das kleine Yoyogi National Gymnasium von Kenzo Tange (Bild: By Chris 73 [CC BY-SA 3.0 or GFDL], Wikimedia Commons)

Das Augenmerk der Architekturszene und auch der Medien liegt derweil auf dem Bau des Hauptstadions. Denn um den wichtigsten Bau der Spiele hat sich ein Eklat entsponnen: Nachdem Zaha Hadid beim Wettbewerb im Jahr 2012 den Auftrag zum Bau des Olympiastadions in der Innenstadt bekommen hatte, formierte sich Opposition gegen Hadids wahlweise als Fahrradhelm, Klobrille oder Schildkröte diffamierten, parametrischen Entwurf. Flankiert von Premierminister Shinzo Abes neo-nationalistischer Politik sollte – nach einer vergeblichen Überarbeitung durch Hadid –  eine „japanische Lösung“ gefunden werden: Das ausfahrbare Dach und das Sportmuseum wurden eingestampft, die Anzahl der VIP-Lounges reduziert und auf eine Klimatisierung verzichtet. Doch die „Ehren“-Runde half nichts, der Wettbewerb wurde annulliert – angeblich aus Kostengründen und obwohl Hadids futuristischer Entwurf Tokyo geholfen hatte, den Zuschlag gegen Istanbul und Madrid zu bekommen – bevor er von der Politik und prominenten japanischen Kollegen sabotiert wurde.

Im Gespann mit den mächtigen Baukonzernen bewarben sich Toyo Ito und Kengo Kuma um den Prestige-Auftrag: Während Ito einen monumentalen Marshmallow entwarf, vertraute Kuma ganz auf sein Repertoire der warmen Farben und Materialien und der eleganten Lamellen aus Holz, die seine Bauten in aller Welt prägen. Ein hoher Grad an Vorfertigung soll helfen, den nun äußerst knapp gewordenen Zeitrahmen einzuhalten. Der Einsatz von pflegeleichten, örtlichen Pflanzen (wie „Suzuki“-Glockenbäumen und „Yama tsutsuji“-Azaleen) in Pflanztrögen in den Fassaden soll eine „warme und einladende Atmosphäre schaffen“, so Kuma. Der Verlauf des überbauten Shibuya-Gawas auf dem Olympia-Gelände soll wieder erlebbar gemacht werden. „Billiger, niedriger, grüner“ soll Kumas Stadion sein – statt „schneller, höher, weiter“, wie im olympischen Motto. Wie Stadien seit 2000 Jahren hat es die Form eines einfachen Ovals. Das Nationalstadion von 1958, ein Meisterwerk von Mitsuo Katayama, wurde bereits abgerissen, um Platz für den Neubau zu machen. Das Hotel Okura von Yoshiro Taniguchi und der Tsukiji Fischmarkt werden ebenfalls abgerissen.

Das Kokuritsu-Stadion wurde abgerissen (Bild: Waka77 [Public domain], Wikimedia Commons)

Nicht anders als in China, wo sich Premierminister Xi Jinping gegen »verrückte und extravagante Architektur« aussprach, schien auch in Japan Kostendisziplin über architektonische Aussage zu gehen. Kuma knüpft zwar an die traditionelle japanische Architektur an, aber zaghaft. Das war bei den Spielen 1964 noch ganz anders: Die beiden Stadien am Yoyogi-Park von Kenzo Tange gehören bis heute zu Tokyos bekanntesten Gebäuden. Sie gelten als Höhepunkt der japanischen Nachkriegsarchitektur und Wende in Tanges Oeuvre – weg vom westlichen Vorbild hin zur japanischen Moderne. Mit großer Eleganz und in enger Zusammenarbeit mit seinem Ingenieur Yoshikatsu Tsuboi hatte Tange über einem steinernen Plateau organisch geschwungen Hallen in Form eines Samurai-Helmes als Hängebrücke konstruiert. Die metallischen Dächer des großen Schwimm-Stadions und der kleineren Basketball-Halle in Form eines Schneckenhauses wurden an Stahlkabeln aufgehängt, die von Betonpylonen getragen werden, während die Sichelmond-förmigen Tribünen ausschwingen. Diese und andere Sportstätten der 1964er-Spiele werden für das Jahr 2020 entstaubt: So werden unter dem großen Zeltdach des „Nippon Budokan“ die Judo-Wettkämpfe veranstaltet.

Auf die Frage, ob Kuma sich nun als Nutznießer eines „opaken Auswahlprozesses und unklarer Kommunikation“ (Kuma) fühlen muss, erwidert er: Anders als in Europa sei es „für ausländische Architekten in Japan eben schwierig für den Staat zu bauen“. Kuma, dessen Architekturbüro nur einen Steinwurf vom Tokyoter Olympiagelände in Gaienmae entfernt liegt, stellt seinen Entwurf in den Kontext seiner Architekturauffassung: „Radikale Veränderungen sind heute – anders als in den 1960er-Jahren – städtebaulich nicht mehr nötig, der Umbau von einer Stadt aus Holz zu einer Stadt aus Beton ist nahezu abgeschlossen und eine vorbildliche Infrastruktur vorhanden. Heute wollen wir lediglich die Fußgängerfreundlichkeit der Stadt verbessern“. Immer wieder wird zu recht kritisiert, dass Olympische Spiele teure „weiße Elefanten“ hinterlassen, deren riesige Kapazitäten nie wieder genutzt werden. „Hier und da ist ein solcher Elefant aber nötig“, kontert Kuma lapidar, „aber nicht als Monument“.

Staatliche Großprojekte treffen in Deutschland wie in Japan schnell auf Opposition – der Berliner Flughafen, der Stuttgarter Bahnhof und die Hamburger Philharmonie sind beredtes Zeugnis, dass wir „in einer Zeit der Aversion gegen Großbauten“ leben (Kuma). Der Wettkampf, ein Olympiastadium zu bauen, kann genauso kompetitiv sein wie die Wettbewerbe, die darin stattfinden. Am 24. Juli 2020 wird in Tokyo die Olympische Flamme entfacht. Ob die Wettbewerbe so spannend werden wie die Vorgeschichte?

Kengo Kuma: Heute wollen wir lediglich die Fußgängerfreundlichkeit der Stadt verbessern (Bild: By Strelka Institute for Media, Architecture and Design (https://www.flickr.com/photos/strelka/14211195438/) [CC BY 2.0], via Wikimedia Commons)