Sozialer und programmatischer Ort

Author
Peter Petz
Published on
Oct 12, 2010

Sauerbruch Hutton gewinnen den Wettbewerb um M9 – A New Museum for a new City in Venedig-Mestre. Matthias Sauerbruch stellt sich unseren Fragen zum Wettbewerb.
 
Welche Bedeutung hat das Projekt für Venedig?
Mestre ist ja zwar Teil der Kommune Venedig, führte aber immer eine Schattendasein als “backyard” der Lagunenstadt. Mestre ist – wenn man so möchte – das glatte Gegenteil der historischen Altstadt: dort historische Bausubstanz höchster Qualität, hier heterogener Bestand mit sehr durchmischter Provenienz; dort totale Internationalisierung und Touristisierung, hier italienische Alltagskultur; dort an Disney grenzende Künstlichkeit, hier Dirty Realism; dort kulturelles Angebot bis zum Abwinken, hier relativer Mangel.

In dieser Situation wird M9 als sozialer und programmatischer Ort eine sehr wünschenswerte, vielschichtige Ergänzung zur Innenstadt von Mestre bieten. Seine Angebote werden das öffentliche Leben in der Stadt entscheidend bereichern, und als Anziehungspunkt für Besucher auch einen wichtigen wirtschaftlichen Stimulus bieten.

M9 wird darüberhinaus eines der ersten Museen sein, das sich explizit mit der Kultur des 20.Jahrhunderts auseinandersetzt – und dies an einem Ort, an dem das Erbe dieser Epoche durchaus präsent ist.
 
Wie binden Sie M9 in den städtebaulichen Kontext ein?
Wir versuchen, das Museum vermittelnd in das heterogene städtische Gewebe zu integrieren. Um eine gut funktionierende Fußwegverbindung zwischen der zentralen Piazza Erminia Ferretto und der südlich gelegenen Via Cappucina (demnächst mit einer Straßenbahnhaltestelle mit Anschluss an die gesamte Lagune) herzustellen, bildet unser Entwurf einen neuen Straßenraum aus. Diese gut sichtbare Diagonalverbindung eröffnet dem Passanten die Durchquerung des ehemaligen Convento delle Grazie (ein Benediktinerkloster aus dem 16.Jhdt.), das zu einem kleinen Laden- und Dienstleistungszentrum umgebaut werden wird.

Aus der ersten städtebaulichen Geste entstanden die weiteren Schritte: Die Diagonale teilt das Grundstück in zwei Dreieckshälften. Das größere Dreieck an der Via Brenta Vecchia wird vom eigentlichen Museum belegt, ein kleineres Servicegebäude besetzt das Grundstück an der Via Giovanni Pascoli. Zwischen den beiden Gebäuden und dem ehemaligen Konvent entsteht eine kleine Piazzetta als gemeinsamer Fokus.
 
Wie kamen Sie zur Volumetrie und wie verteilen Sie Nutzungen?
Die Höhen der Gebäudeteile reagieren auf die sehr unterschiedliche Silhouette der Umgebung. Hier finden sich sowohl ein- bis zweigeschossige “Häuschen” (ehemals Werkstätten, Remisen et cetera), fünf- siebengeschossige Straßenrandbebauung sowie ein 14-geschossiges Hochhaus. Der Museumskomplex vermittelt zwischen diesen unterschiedlichen Profilen und verwebt “die losen Enden” dieser städtischen Textur.

Das Hauptgebäude enthält die öffentlichen Funktionen des Museums: Foyer, Mediathek, Buchladen, Veranstaltungsräume und ein Restaurant im Erdgeschoss, die permanente Ausstellung auf zwei Obergeschossen darüber. Im 3. Obergeschoss befindet sich die Galerie für Wechselausstellungen. Das Nebengebäude enthält die Arbeitsräume der Museumsverwaltung, Restaurationslabore und die Anlieferung. Im Erdgeschoss finden sich dort außerdem zur Piazzetta ausgerichtete kleine Ladenflächen. Die beiden Gebäude sind durch ein gemeinsames Untergeschoss verbunden, in dem die Technikräume, Depots und eine Tiefgarage untergebracht sind.
 
Welche Rolle spielt das Licht in Ihrem Entwurf?
Im Erdgeschoss versuchen wir mit größtmöglicher Transparenz den Bezug zwischen den öffentlichen Nutzungen im Museum und dem öffentlichen (Außen-)Raum herzustellen und bringen damit natürlich auch viel Tageslicht in das Innere. Da die permanente Ausstellung im 1. und 2. Obergeschoss des Haupthauses vorwiegend auf mediale Präsentationstechniken ausgerichtet ist, sind diese Etagen als “Black Boxes” mit künstlicher Beleuchtung konzipiert. Die oberste Etage hingegen wird über nach Norden ausgerichtete Sheddächer mit ausgezeichnetem Tageslicht versorgt. Die große Treppe, die alle Etagen miteinander verbindet, ist recht gezielt mit indirekter Tagesbelichtung sowie speziell platzierten Ausblicken gestaltet, sodass eine spezielle räumiche Choreographie entsteht. Ganz oben gibt es auch die Möglichkeit auf einen Balkon ins Freie zu treten den Blick über die Dächer zu genießen.
 
 
Welches architektonische Thema war Ihnen besonders wichtig?
Die Maßstäblichkeit des Gebäudes wurde zunächst aus den städtebaulichen Überlegungen entwickelt. Die Querung des Grundstücks, die dreidimensionale Integration des Gebäudekörpers in den Kontext, die Zugänglichkeit aller Komponenten des Programms spielten darin eine wichtige Rolle. Die Volumetrie und das Erscheinungsbild des Museums entstanden aber auch aus einer bewussten Interpretation des künstlerischen Erbes des 20. Jahrhundert. Die Akzeptanz von Mechanisierung, Mobilität und Geschwindigkeit als Komponenten des zeitgenössischen Wahrnehmungshorizontes teilt unser Entwurf mit dem italienischen Futurismus. Natürlich spielt auch Farbe eine Rolle, aber nicht als Ornament im Sinne 19. Jahrhunderts, sondern als gezielte Irritation räumlicher Wahrnehmungskonventionen, wie sie auch in der Malerei (und Architektur) der Moderne zu finden ist.

Was dieses Museum dabei zu einem Produkt des 21. Jahrhunderts macht, ist die Bemühung um eine ganzheitliche Vorgehensweise, die städtische Kontinuität, funktionale Flexibilität und – wie in all unseren Entwürfen - den sehr bewussten Umgang mit zahlreichen Aspekten der Nachhaltigkeit miteinander verbindet.
Gibt es schon einen geplanten Fertigstellungstermin?
Ja: 2014
 

Die gesamte Wettbewerbsdokumentation finden Sie in wa 10/2010
M9 – A New Museum for a new City in Venedig-Mestre
Begrenzt offener Wettbewerb

Jury
Giuliano Segre, Vors.
Cesare Annibaldi
Roberto Cecchi
Plinio Danieli
Marino Folin
Carlo Magnani
Giorgio Orsoni


1. Preis
Sauerbruch Hutton
Berlin

Weitere Teilnehmer
Pierre-Louis Faloci
Paris

Carmassi Studio di Architettura
Florenz

David Chipperfield Architects
London

Mansila + Tunón Arquitectos
Madrid

Souto Moura Arquitectos
Porto