Ausbruch aus Berlins Wohnungsbaueinerlei

Falk Jaeger
16. de març 2023
Foto: Laurian Ghinițoiu

Wenige Straßen in Berlins Innstadt erzählen derart beredt vom disparaten Schicksal der Stadt in den vergangenen hundert Jahren wie die Kurfürstenstraße, die die Bezirksgrenze zwischen Tiergarten und Schöneberg markiert. Der Straßenraum zwischen Zoo und Potsdamer Straße zeigt Bauten aus Gründerzeit und Wiederaufbauphase, Postmoderne und Gegenwart. Die Kurfürstenstraße startet im Westen mit großvolumigen Bürokomplexen und offenen, zerfließenden Stadträumen (autogerechte Stadt), geht über in das Kielganviertel mit Stadtvillen der Gründerzeit (eine davon das berühmte Café-Einstein-Stammhaus) und zeigt im weiteren Verlauf Richtung Osten über die Potsdamer Straße hinaus typische Berliner Gründerzeitarchitektur – nicht ohne Brüche in Maßstab und Architektursprache durch Ersatzbauten anstelle von Kriegsverlusten.

Foto: Laurian Ghinițoiu

Besonders der ausgefranste mittlere Bereich – dort wo seit West-Berliner Zeiten der Straßenstrich anzutreffen ist – bedarf dringend der Stadtreparatur. Ganz typisch ist die collagenhafte Situation um die ehemalige Baugewerkschule, 1914 von Ludwig Hoffmann erbaut, die es mit ihren monumentalen Säulen mit der New Yorker Börse aufnehmen zu wollen scheint. Rechts daneben bildet ein mickriges Gemeindehaus aus den 1960er-Jahren, das offenbar völlig ohne städtebaulichen Bezug entstand, den maximal denkbaren Kontrast. Links daneben, wo bis vor kurzem Gebrauchtwagen verkauft wurden, steht nun ein kaum weniger kontrastierender Nachbar, das kristallin-gläserne Wohngebäude einer Baugruppe.

Das Haus an der Ecke Frobenstraße lässt keinen Zweifel daran, dass es weder mit dem traditionellen Städtebau des Ortes, noch mit den hier vorherrschenden Bautypen etwas anfangen kann. Die Geometrie des Baukörpers ist in langen Modellreihen aus dem Zusammensetzen und »Ineinanderschachteln« von sechs fast quadratischen Türmen entstanden. Drei der Kuben nehmen die Gebäudeflucht der Kurfürstenstraße auf, die anderen drei sind etwas winkelverdreht an der Flucht der Frobenstraße orientiert.

Foto: Laurian Ghinițoiu

Das Ineinandergreifen der Türme und der beiden Rasterrichtungen führt zu vielfältigen Grundrissvarianten der 20 unterschiedlichen Wohneinheiten auf acht Ebenen. Da jedes Apartment einen fünf Meter hohen Zentralraum aufweist, kommen vertikale Verschachtelungen hinzu: Das Gebäude sieht aus, als ob es im Rahmen eines räumlichen Tetris-Spiels entstanden wäre.

Undenkbar, dass ein solches Bauwerk von einer gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaft oder von einem kommerziellen Developer errichtet worden wäre. So empfiehlt sich an dieser Stelle ein Blick auf die Entstehungsgeschichte. Johanna Meyer-Grohbrügge und Sam Chermayeff, die Architekten des Büros June14, hatten das Grundstück auf Immoscout gefunden und versucht, im Freundeskreis eine Baugruppe zusammenzutrommeln. Mehr als 100 Interessenten waren im Gespräch, 20 stiegen letztlich ein. Etwas abenteuerlich verlief der Kaufprozess mit dem Autohändler, dann ging es ans Planen. So komplex wie die räumliche Komposition der Wohnungen, von denen keine ist wie die andere, gestaltete sich die Verteilung der Einheiten unter den Interessenten; insbesondere, als der Eckturm nicht in der geplanten Höhe genehmigt wurde und das Arrangieren in eine neue Runde ging. 2020 konnte der Bau endlich starten.

Wenig Kontroversen gab es um die Architektur. Eine Ortbetonkonstruktion (heute würden die Architekten einen Holzbau erwägen), vorwiegend Sichtbeton und Estrichböden, dazu weiße Trockenbauwände und herkömmliche Heizkörper statt einer Fußbodenheizung (wegen der Bauhöhe) bestimmen die kostenbewusste Bauausführung. Zwei kleine Gewerbeeinheiten im Erdgeschoss, zwei Lobbys für die Bewohnenden, dazu Dachgärten und ein erstaunlich großzügiger Gartenhof gemeinsam mit dem Nachbarhaus (Architekten: Bolles Wilson) als Mehrwert ausserhalb der eigenen vier Wände waren die Prämissen.

Die Zimmer sind raumhoch mit einem Schüco-Fassadensystem verglast – das umgebende Stadtpanorama gehört gewissermaßen zum Interieur. Nur die Öffnungs-Schiebeflügel haben aus Gewichtsgründen leichte, blickdichte Paneele. Weil sich die Fassade großflächig öffnen lässt, haben die Bauherren auf kostentreibende Balkone verzichtet. Nur wenige Wohnungen haben ein Stück Dachterrasse oder Garten vor dem Wohnzimmer.

Foto: Laurian Ghinițoiu

»Wohnzimmer« ist freilich ein althergebrachter Begriff, der einem hier nicht in den Sinn kommt. Es handelt sich um ein offenes, luftiges Wohnraumkontinuum ohne funktionale Determinierung, zweigeschossig, im Grundriss meist L-förmig, mit Stahltreppen hinauf zu einer Empore. Es gibt meist ein Badezimmer pro Ebene und hier und da einen abgeschlossenen Stauraum. Das Volumen, das in den Raum hineinragt, gehört schon zur Nachbarwohnung.

Das Gefühl für Nachbarschaft ist ohnehin weiter entwickelt als üblich. Die verschachtelte Bauweise und die Glaswände erlauben viele Aus- und Einblicke und optische Kontakte. Die beiden Lobbys sind Treffpunkte ebenso wie die Dachgärten und der Gartenhof. Und vielleicht entstehen durch die Kontakte auch neue Konstellationen – dass zum Beispiel zwei Apartments zusammengelegt werden oder jemand einen Raum abgibt, der dem Nachbarn zugeschlagen wird. Diese Flexibilität erlaubt das Bausystem ohne großen Aufwand. Sie ist Teil des radikal gegenwärtigen Programms und gestattet, vom schematischen Wohnungsbaueinerlei wegzukommen hin zu individuellen, auf unterschiedlichste Lebensentwürfe zugeschnittenen, zukunftsfähigen Lösungen.

Die kühlen, von Beton und Glas beherrschten Räume animieren ohnehin zur individuellen Ausgestaltung. In den meisten Apartments herrscht ein hippes Wohngefühl vor, das ein wenig an die Hightech-Zeit des Industrial Style Ende der 1970er-Jahre in New York erinnert. Jedenfalls ist man von den 08/15-Dreizimmerwohnungen, wie sie von Wohnungsbaugesellschaften und Investoren in der Nachbarschaft noch immer besinnungslos hochgezogen werden, denkbar weit entfernt.

Lageplan (© June14 Meyer-Grohbrügge & Chermayeff)
Axonometrie (© June14 Meyer-Grohbrügge & Chermayeff)
Grundriss Erdgeschoss (© June14 Meyer-Grohbrügge & Chermayeff)
Grundriss 3. Obergeschoss (© June14 Meyer-Grohbrügge & Chermayeff)
Grundriss 4. Obergeschoss (© June14 Meyer-Grohbrügge & Chermayeff)
Längsschnitt (© June14 Meyer-Grohbrügge & Chermayeff)

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