Alpine Heiterkeit

riccione architekten und Helga Flotzinger
28. April 2023
Foto: Gregor Graf
Frau Flotzinger, Herr Bortolotti, worin liegt das Besondere an dieser Bauaufgabe?


Helga Flotzinger (HF): Ein kleines, um das Jahr 1900 errichtetes Sommerfrischehaus musste leider abgebrochen werden. Denn nachdem es im Zuge diverser »Sanierungen« mit Vollwärmeschutz aus Styropordämmung, Kunstharzputz und Kunststofffenstern versehen wurde, war es irreparabel zerstört. Wir haben es als unsere Aufgabe angesehen, Atmosphäre und Qualität des ursprünglichen Hauses wiederauferstehen zu lassen, zeitgemäß zu interpretieren und im besten Fall noch besser zu machen. Außerdem war uns wichtig, durch die Beibehaltung der ursprünglich überbauten Fläche die Bilanz hinsichtlich der Bodenversiegelung nicht weiter zu verschlechtern.

Der Neubau zeigt sich als Assemblage unterschiedlicher geometrischer Formen. (Foto: Gregor Graf)
Statt in der von Einfamilienhäusern geprägten Umgebung auf Minimalismus zu setzen, entschieden sich Helga Flotzinger und Clemens Bortolotti bewusst für gestalterische Fülle und scheuten vor Extravaganz nicht zurück. (Foto: Gregor Graf)

Clemens Bortolotti (CB): Das Raumprogramm wurde deshalb kompakt und mit einem schlanken Fußabdruck in einer turmartigen Bebauung über vier Geschosse an dem steilen Hang organisiert. Unten ganz als Atriumhaus mit einem intimen, erdverbundenen Entree mit hellem Himmelslicht von oben gestaltet, entwickelt die Architektur allmählich mit der pultartigen Überdachung des Aufgangs ins Erdgeschoss die Idee des Turms. Überwölbt wird der Baukörper schließlich von einem versetzt geöffneten Tonnendach, als läge ein umgedrehter Schiffsrumpf obenauf.

Das Haus erinnert mit seiner Assemblage aus geometrischen Formen und architektonischen Gesten an ein Steckspiel, bei dem sich unterschiedlichste Klötzchen letztlich doch zu einem Ganzen stapeln. 

Der Bauplatz befindet sich auf einer Hangterrasse etwa 300 Meter oberhalb von Innsbruck. (Foto: Gregor Graf)
Welche Inspiration liegt diesem Projekt zugrunde?


HF: Als Referenzprojekte beziehungsweise Vorbilder aus unserem direkten Umfeld möchten wir Bauten unseres Lehrers Josef Lackner nennen: das Einfamilienhaus in Aldrans und den Bürotrakt der Zimmerei Binder im Zillertal. Mit Blick über die Grenzen beziehen wir uns auf Bauten von Turner Brooks und Charles Moore, auf die Organik von Hugo Häring, aber auch auf die Architekturen in den Anime-Filmen des japanischen Trickfilmstudios Studio Ghibli. Assoziationen mit Installationen beziehungsweise Skulpturen von Imi Knoebel sind darüber hinaus durchaus erwünscht. 

Blick auf den Eingangsbereich (Foto: Gregor Graf)
Auch im Inneren ist die Architektur opulent. (Foto: Gregor Graf)
Wie hat der Ort auf den Entwurf eingewirkt?


CB: Auf einer Hangterrasse, die etwa 300 Höhenmeter über dem Inntal liegt und dem Innsbrucker Hausberg Patscherkofel vorgelagert ist, befindet sich der kleine Ort Sistrans. Die erhabene Ruhelage im unmittelbaren Einzugsgebiet der Tiroler Landeshauptstadt hat das Dorf in den vergangenen Jahrzehnten zu einer beliebten Wohngemeinde werden lassen, deren Bevölkerung stetig wächst. Aus der bäuerlichen Siedlung von einst, die sich im Ortskern noch erahnen lässt, ist ein bunt-scheckiger Einfamilienhausteppich geworden, der sich nach und nach erweitert und verdichtet.

Während sich zeitgenössische Architektur in einem so heterogenen Umfeld üblicherweise durch Reduktion und Minimalismus abzuheben sucht, haben wir eine gegenteilige, im besten Sinne postmoderne Strategie der Fülle für die Gestaltung eines neuen Wohnhauses an diesem Ort gewählt. 

HF: Inspiration boten nicht zuletzt die Sommerfrischehäuser und kleinen Villen, die in Sistrans um die vorletzte Jahrhundertwende und im frühen 20. Jahrhundert entstanden sind. Die wenigen noch erhaltenen Beispiele waren Vorbild für ein gewisses Maß an »alpiner Heiterkeit« – ohne Scheu vor etwas Hütten- und Ferienhausgemütlichkeit und mit Mut zur Abweichung und Extravaganz. 

Die Innenräume haben etwas von der Gemütlichkeit alpiner Hütten- und Ferienhäuser. (Foto: Gregor Graf)
Foto: Gregor Graf
Inwiefern haben Bauherrschaft, Auftraggeber oder die späteren Nutzer*innen den Entwurf beeinflusst?


HF: Das Projekt ist quasi die Abbildung der persönlichen Geschichte des Bauherrn.

Wie gliedert sich das Gebäude in die Reihe der bestehenden Bauten Ihrer Büros ein?

 

CB: Dieses Projekt ist für uns ein weiterer Schritt in die Richtung »ein Haus darf etwas erzählen«, also hin zu einer »narrativen« Architektur.

Der Bauherrschaft war wichtig, dass möglichst viele Naturmaterialien aus der Region verbaut wurden. (Foto: Gregor Graf)
Die Treppen und Ebenen mit ihren weiß lackierten Gittern und Geländern sind gestaltprägende Elemente des neuen Hauses. (Foto: Gregor Graf)
Beeinflussten aktuelle energetische, konstruktive oder gestalterische Tendenzen das Projekt?


HF: Vorgabe des Bauherrn war die größtmögliche Verwendung ökologischer Materialien aus der Region: Alle nicht erdberührenden Teile sind aus Ziegel und Holz gebaut, die Fassade besteht aus langsam vergrauenden Holzschindeln. Innen zeigt sich die Konstruktion – Sichtbeton bei den erdberührenden Teilen, Holzbinder in den Dachbereichen und naturbelassene Lehmputze. Böden und Wandverkleidungen aus Eichen- und Birkenholz sowie keramische Fliesen ergänzen die ökologische Materialauswahl. 

Die komplexe Geometrie des Bauwerks zu realisieren, stellte in vielfacher Weise eine große Herausforderung für die unterschiedlichen Gewerke dar, musste doch praktisch jedes Detail passgenau angefertigt werden, was mit Handwerkskunst und traditionellen Bauweisen in regionaler Ausprägung gelöst wurde – kombiniert mit modernen Vorfertigungsmethoden. Das Ziel des Bauherrn war, mit einem Kachelofen, einer Luftwärmepumpe und der Photovoltaik energieautark zu sein.

Das Haus ist dank eines Kachelofens, einer Luftwärmepumpe und einer PV-Anlage energieautark. (Foto: Gregor Graf)
Welches Produkt oder Material hat zum Erfolg des vollendeten Bauwerks beigetragen?


CB: Die komplexe Außenform wird von Holzschindeln aus Lärchenholz wie von einer Haut organisch umhüllt. 

Die betont vertikale Schichtung des Hauses ließ die Treppen und Ebenen mit ihren weiß lackierten Gittern und Geländern zu einem wichtigen Element der Gestaltung werden; innen wie außen sind sie als dramaturgisch-spannungsvolle Übergänge von einer Ebene zur nächsten inszeniert.

Explosionsgrafik (© Madeleine Linta)
Grundriss Untergeschoss (© Madeleine Linta)
Grundriss Erdgeschoss (© Madeleine Linta)
Grundriss 1. Obergeschoss (© Madeleine Linta)
Grundriss 2. Obergeschoss (© Madeleine Linta)
Querschnitt (© Madeleine Linta)
Längsschnitt (© Madeleine Linta)
Bauwerk
Haus S
 
Standort
6073 Sistrans
 
Nutzung
Wohnhaus
 
Auftragsart
Direktauftrag
 
Bauherrschaft
Privat
 
Architektur
riccione architekten und Architektin Helga Flotzinger, beide Innsbruck
Mitarbeiter*innen: Christopher Perktold, Ulrich Peintner, Clemens Waldhart und Madeleine Linta
 
Fachplaner
Tragwerksplanung Holzbau: FS1 Fiedler Stöffler, Christian Stöffler, Innsbruck
Tragwerksplanung Betonbau: a+t, Martin Schindl, Volders
 
Bauleitung 
Bmst. Ing. Franz Kronberger, Innsbruck
 
Fertigstellung
2022
 
Maßgeblich beteiligte Unternehmer 
Baumeister: HS-Bau Josef Hauser GmbH, Terfens
Holzbau: Holzbau Lengauer-Stockner GmbH, Schwoich
Holzschindeln: Astner Holzschindeln GmbH, Wiesing
Best Boy: Reinhard Ram
 
Fotos
Gregor Graf

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