Das atmende Hauptquartier

terrain: integral designs
21. April 2023
Foto: © Jan Schuenke
Herr Loenhart, worin liegt das Besondere an Ihrem konzeptionellen Ansatz?


Wie wünschen wir uns die Zukunft? In unseren Augen soll sie pflanzenbasiert, erdölfrei, sozial gerecht und ökologisch wirkkräftig sein. Vieles dreht sich in unserem Denken um die Integration menschlichen Wirkens in die Stoffkreisläufe des Lebens auf unserem Planeten. Diese Haltung verlangt nach einem Umdenken in Bezug auf das Design, den Materialeinsatz, die Energienutzung und die bioklimatische Gestaltung großer Strukturen. Wir fragen: Wie können wir all diese Zielsetzungen in der Gebäudekonzeption zusammenführen?

Die Antwort liegt in der Gestaltung eines ganzen Ökosystems, also in einem systemischen Entwurfsansatz, bei dem Gebäude zu atmen beginnen. In unseren Projekten artikuliert sich dies in sinnlich und atmosphärisch erlebbaren Räumen, die dank gebäudetypologisch integrierter Pflanzengemeinschaften buchstäblich Sauerstoff einatmen.

Welche Inspiration liegt diesem Projekt zugrunde?


Die Vorstellung einer tiefen Einbindung unseres menschlichen Gestaltungswillens in die ökologischen Prinzipien und tiefen Bezogenheiten unserer natürlichen Welt.

Im Ausstellungsbereich (Foto: © Jan Schuenke)
Blick vom Bistro in den Innenhof (Foto: © Jan Schuenke)
Wie hat der Ort auf den Entwurf eingewirkt?


Ein Stück Horizont aus Glasschindeln bestimmt den überraschenden ersten Eindruck bei der Ankunft auf dem Gelände der Firma Grüne Erde. Fast meint man, eine reflektierende Wasserfläche vor sich zu haben. Die Besucher*innen sind zunächst damit beschäftigt, die organische Lebendigkeit der Landschaft des Hauptquartiers sinnlich zu erfahren, denn man hat nur den Himmel, die Bäume und die natürliche Vegetation vor Augen und erlebt so den gesamten topografisch geprägten Gebäudekontext.

Die Hauptfassade unseres Baus folgt nicht dem Wertekanon einer repräsentativen Architektur. Vielmehr helfen die unterschiedlichen Neigungswinkel der Glasschindeln, die Lebendigkeit der Umgebung, die weite Landschaft, den Himmel und die vorüberziehenden Wolken bei wechselndem Wetter sowie die unterschiedlichen Lichtstimmungen für die Besucher*innen erlebbar zu machen. Die eigene Bewegung vor den Schindeln macht das Landschaftserlebnis geradezu greifbar.

Robert Smithsons Land-Art-Projekte »Ithaka Mirror Trail« und »Mirror Displacement« waren in gewisser Weise die Inspiration für diese Übersetzung. Als Fassade interpretiert, bilden die reflektierenden Spiegelflächen kein Bildkontinuum, sondern fungieren als Medium, mit dem wir die Landschaft auf einer sinnlichen Ebene erfahren können.

Zwei Mitarbeiterinnen in der Textilproduktion genießen den Ausblick auf die reiche Pflanzenwelt vor dem Fenster. (Foto: © Jan Schuenke)
Inwiefern haben Bauherrschaft, Auftraggeber oder die späteren Nutzer*innen den Entwurf beeinflusst?


Das Unternehmen Grüne Erde hat sich auf die Entwicklung und Herstellung von Produkten spezialisiert, bei denen ökologisches, nachhaltiges Denken und Handeln im Vordergrund steht – unter besonderer Berücksichtigung von sozial gerechtem Handel und Materialketten aus nachwachsenden Rohstoffen. Unsere Gestaltungsphilosophie, die ich eingangs geschildert habe, passt gut zu diesen Grundsätzen, denn sie verbindet die Bedürfnisse des Menschen mit der Ökologie unseres Lebensraumes. Mit dem neuen Hauptquartier wurden Standards in Bezug auf Design, Material- und Energieverbrauch sowie bioklimatische Wirkung von Großbauten grundsätzlich infrage gestellt – und neu definiert.

Wie werden die Mitarbeitenden in dieser Raumlandschaft agieren? Das war eine wesentliche Frage für uns. Und wie werden die Besucher*innen den Ort erleben? Unser Ziel war, dass unsere Anlage als Bereicherung und Inspiration wahrgenommen wird. Beispielsweise wird die Arbeitsatmosphäre in der Textilproduktion ganz essenziell durch den vom Tageslicht durchfluteten Innenraum geprägt. Dort werden die Tageszeit, das Wetter und die Lichtstimmung draußen für die Arbeiter*innen erlebbar. Wie fühlt es sich an, bei der Arbeit eine lebendige Baumlandschaft direkt vor Augen zu haben? Und welche Wirkung auf das Wohlbefinden haben Baumaterialien, die keine Schadstoffe ausdünsten? Der fröhliche Umgang der Mitarbeiter*innen spricht für sich. Nachdem der Krankenstand der Belegschaft nachweislich gesunken ist, wird deutlich, dass der lebendige Landschaftsbezug des Innenraums tatsächlich äußerst positiv auf die Nutzer*innen einwirkt.

Im Innenhof befindet sich ein Microwald. Anstelle von aufwendigen haustechnischen Anlagen sorgen die Pflanzenhöfe für ein behagliches Gebäudeklima. (Foto: © Jan Schuenke)
Wie gliedert sich das Gebäude in die Reihe der bestehenden Bauten Ihres Büros ein?


Fast ausnahmslos finden sich unsere Projekte in tiefer kontextueller Resonanz zu Natur- oder Landschaftsräumen – wie beispielsweise der Aussichtsturm an der Mur zum umgebenden Naturschutzgebiet oder die Olympiaschanze in Garmisch-Partenkirchen zum topografischen Kontext der nahen Bergkette. Eine weiterreichende »Naturresonanz« im städtischen Kontext konnten wir mit der Konzeption einer klimatisch und atmosphärisch wirksamen »Pflanzenperformanz« für den österreichischen Pavillon an der EXPO des Jahres 2015 in Mailand umsetzen. Das erzielte bioklimatische Ergebnis übertraf alle Erwartungen. Es unterschied sich deutlich vom Stadtklima der norditalienischen Metropole. Der Kühleffekt, der sich ohne jede mechanische Kühlung einstellte, war unmittelbar spürbar. Er betrug 12 Grad Celsius! Dieser Erfolg beruhte auf der Schaffung einer Waldatmosphäre beziehungsweise auf der Evapotranspiration der Pflanzen und des Waldbodens.

Das Grüne-Erde-Hauptquartier ist der nächste Schritt in dieser Entwicklung: Weltweit zum ersten Mal wurde die »klimatische und atmosphärische Pflanzenleistung« als Klima-, Lüftungs- und Kühlkonzept im industriellen Maßstab angewendet. Dabei wurden umfangreiche gebäudetechnische Anlagen durch Pflanzenhöfe und deren Klimaperformanz ersetzt. Das macht unser Bauwerk zu einem pflanzenbasierten, biophilen Projekt einer bioklimatischen Architektur der Zukunft, das hoffentlich bald zahlreiche Kolleg*innen inspirieren wird.

Zu der Anlage gehört auch ein Flagship-Store. (Foto: © Jan Schuenke)
Beeinflussten aktuelle energetische, konstruktive oder gestalterische Tendenzen das Projekt?


Ich wünsche mir, dass wir weniger aktuellen Tendenzen folgen als diese vielmehr zu erzeugen und mitzugestalten. In Zeiten, da saubere und frische Luft immer kostbarer wird und gesunde Arbeits- und Lebensbedingungen als erstrebenswerte Werte erkennbar werden, werden die Effektivität und die Bedeutsamkeit unserer Gestaltungsansätze sichtbarer. Und das ist gut so. Wir müssen an umweltfreundlichen Bauten arbeiten, damit unser Planet und alles Leben auf ihm eine Zukunft haben.

Das Hauptquartier von Grüne Erde ist der Proof-of-Concept für eine kohlenstoff- und kostenneutrale Gebäudezukunft. Die großteils überflüssige und sehr teure Lüftungstechnik wurde durch Sensortechnologie ersetzt, die an eine pflanzlich-performative Kühlung und Atmung gebunden ist. Wir sprechen von einem performativen techno-natürlichen System, bei dem sogar die biologische Vielfalt in den von uns integrierten Microwäldern mitgedacht ist.

Die vollständig vor Ort erzeugte Solarenergie, der Verzicht auf konventionelle Klimatechnik und die Sauerstoffproduktion der Pflanzen machen das Hauptquartier klimapositiv. Sie bieten einen wichtigen Nachhaltigkeitsfaktor für den gesamten Lebenszyklus des Bauwerks.

Die integrierte Erntelandschaft nach dem CSA-Prinzip (Community Supported Agriculture) (Foto: © Jan Schuenke)
Welches Produkt oder Material hat zum Erfolg des vollendeten Bauwerks beigetragen?


Entscheidend war eher die Vorstellung, auf synthetische, erdölbasierte Produkte und Werkstoffe gänzlich zu verzichten. So ist das Gebäude zu 98,5 Prozent frei von erdölbasierten Stoffen und fast gänzlich aus nachwachsenden Rohstoffen erstellt. Dies wird mit dem Einsatz erneuerbarer Energie ergänzt, die zu 100 Prozent vor Ort erzeugt wird. 

Unser systemischer Gestaltungsansatz endet dabei nicht an der Gebäudefassade: Eine große Wiese im Almtal empfängt die Besucher*innen der Zentrale von Grüne Erde mit einer vielfältigen Landschaft aus Obstbäumen und großen einheimischen Sträuchern, welche die Maisfelder ersetzen, die sich dort vormals befanden. 

Lageplan (© terrain: integral designs)
Grundriss (© terrain: integral designs)
Innenhof in Draufsicht und Schnitt (© terrain: integral designs)
Bauwerk
Grüne Erde Breathing Headquarters
 
Standort
Hinterbergstraße 4, 4643 Steinfelden
 
Nutzung
Bürohaus, Flagship-Store und Produktionsanlage mit Bistro und Besucherzentrum
 
Auftragsart
Direktauftrag
 
Bauherrschaft
Grüne Erde Beteiligungsgesellschaft, Scharnstein
 
Architektur
terrain: integral designs BDA, München und Graz
Projektleiter: Klaus K. Loenhart
Beteiligte Mitarbeiter*innen: Katharina Hengel, Claudia Pittino, Clara Hamann, Maria Fellinger, Kathi Zull, Zoe Yan Zou, Paul Frick und Ondrej Hanuz
 
Fachplaner 
Klimaengineering: transsolar München
Tragwerksplanung: Bauplan Service GmbH
Projektsteuerung: PM Projektmanagement GmbH
Innenarchitektur Konzeption: archibrand und terrain: integral designs BDA
 
Bauleitung 
ARKADE ZT GmbH, Haslach an der Mühl
 
Fertigstellung
Phase 1: 2020
Phase 2: im Bau
 
Auszeichnungen
2022 IN’A – Austrian Innovation and Sustainability in Architecture, 1. Preis
DDC Competition, Gewinner in der Kategorie »Raum«
AIT-Award 2020 / Best in Interior and Architecture, Gewinner in der Kategorie »Industrie / Gewerbe«
Green Good Design Award 2020, Gewinner in der Kategorie »Green Architecture«
Österreichischer Staatspreis für Design 2019, Gewinner in der Kategorie »Räumliche Gestaltung«
Austrian Interior Design Award 2019, Gewinner in der Kategorie »Ladenbau«
OÖ Holzbaupreis 2019, Gewinner in der Kategorie »Gewerbe«
OÖ Landespreis für Umwelt und Nachhaltigkeit 2019, Gewinner in der Kategorie »Betrieb«
 
Fotos
Jan Schuenke, Dießen am Ammersee

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