Ein ehemaliger Kletterturm wird zum »fliegenden Klassenzimmer«

HARDDECOR ARCHITEKTUR
9. September 2022
Die Umgestaltung des einstigen Kletterturms steht für einen Paradigmenwechsel von der Eventkultur zur Wissensgesellschaft. (Foto: Christian Fröhlich)
Frau Digruber, Herr Fröhlich, worin liegt das Besondere an dieser Bauaufgabe?


Johanna Digruber: Der Umbau einer nutzlos gewordenen Kletteranlage eröffnet neue Möglichkeiten der Naturvermittlung für den Naturpark Ötscher-Tormäuer. Der Turm stammt aus einer Zeit, als Tourist*innen die künstliche Kletterwand dem Naturerlebnis vorgezogen haben. Unsere Intervention steht damit sinnbildlich für einen Paradigmenwechsel – weg von der Eventkultur, hin zur Wissensgesellschaft.

Der umgestaltete Turm soll die Sehnsucht wecken, hinauf zu steigen, um in die Ferne zu schauen. (Foto: Christian Fröhlich)
Welche Inspiration liegt diesem Projekt zugrunde?


Christian Fröhlich: Das Programm des adaptierten Turmes geht zurück auf Gartenstrukturen, wie es sie im Landschaftsgarten des 19. Jahrhunderts gab. Sogenannte Folies (»architektonische Ausrufezeichen«) generieren Aufmerksamkeit durch ihr Äußeres und erzeugen Erstaunen ob ihrer Nutzbarkeit. Folies gelten als ein zur Form gewordener Ausdruck von Wunschvorstellungen – meist im Verhältnis von Mensch und Natur. Das oftmals scheinbar Funktionslose dieser Strukturen im Spannungsfeld zwischen Kunst und Architektur versetzt ihre Umgebung in eine ästhetische Beziehung zur Natur.

Der Turm ist nach dem Umbau, was die jeweiligen Nutzer*innen in ihm sehen möchten: eine Aussichtsplattform zum Beispiel, ein Klassenzimmer, eine Werkstatt, ein Architektur-folie und vieles mehr. (Foto: Christian Fröhlich)
Wie hat der Ort auf den Entwurf eingewirkt?


JD: Ein »Naturparkzentrum« zu gestalten, ist eine grundsätzlich ambivalente Aufgabe: Einerseits soll ein Eindruck von »Natur« vermittelt werden, andererseits sind Besucherströme zu leiten. Das freie Gelände rundherum ist genauso wichtig wie die Struktur selbst, deshalb haben wir alle im Terrain herumstehenden »Kletterapplikationen« entfernt. So kann man sich nun dem Turm behutsam nähern, ihn gleichsam umkreisen, bis einen die Sehnsucht zweifach packt: ihn erstens zu begehen und zweitens – oben angelangt – in die Ferne zu schauen …

Der Treppenturm wurde um eine Ebene erweitert und ermöglicht neu den Zugang zu einer Aussichtsterrasse mit Blick auf den Ötscher. (Foto: Christian Fröhlich)
Inwiefern haben Bauherrschaft, Auftraggeber oder die späteren Nutzer*innen den Entwurf beeinflusst?


CF: Die Betreiber des Naturparks haben insofern das Experiment beeinflusst, als dass sie die von uns als Programm propagierte anfängliche »Funktionslosigkeit« als Chance zugelassen haben, womit der Turm am Ende auch das sein kann, was die jeweiligen Nutzer*innen in ihm sehen wollen: eine Aussichtsplattform, ein Klassenzimmer, eine Werkstatt, ein Architektur-folie, …

Gab es bedeutende Projektänderungen vom ersten Entwurf bis zum vollendeten Bauwerk?


JD: Zunächst bestand die Absicht, eine Art »Hochstand« zu bauen, also den Turm zu entkernen. Doch bei einer technischen Begutachtung stellte sich heraus, dass nicht das Holzfachwerk die (statisch) tragende Rolle spielt, sondern vielmehr die als zunächst nutzlos eingeschätzte Holzbeplankung. Aus dieser konstruktiven Notwendigkeit entwickelte sich das Projekt von einer Aussichtsplattform zu einem (fliegenden) Klassenzimmer.

Die Dachterrasse ist ein eigenständiger Kontemplationsraum und wird von einem mäandernden Band aus Holzstäben umschlossen, deren Abstände sich von innen nach außen erweitern. (Foto: Christian Fröhlich) 
Wie gliedert sich das Gebäude in die Reihe der bestehenden Bauten Ihres Büros ein?


CF: Wir befassen uns seit Jahren mit künstlichen Naturen und natürlichen Kunsträumen. Die Dialektik zwischen Natur und Kunst treibt uns an. So wurden 2015 in der Nachbargemeinde Mitterbach am Erlaufsee zwei weitere Projekte eröffnet: Aus der Talstation einer Liftanlage (»Das Haus ist nur ein Dach«) und einer Eingangshütte am Erlaufstausee (»Stapelhaus«) entstand ein Architektur-Triptychon in Wanderdistanz zum »fliegenden Klassenzimmer«.

Das »fliegende Klassenzimmer« eröffnet neue Möglichkeiten der Naturvermittlung und steht allen Besucher*innen zur Verfügung, die sich beteiligen möchten. (Foto: Christian Fröhlich)
Beeinflussten aktuelle energetische, konstruktive oder gestalterische Tendenzen das Projekt?


JD: Sie beeinflussen unsere gesamte Arbeit als Architekten. »Die beste Energie ist jene, die nicht aufgewendet werden muss« – diesem Credo folgend, entscheiden wir uns wann immer möglich für den »Aufbau« und gegen den Abbruch. Stets prüfen wir sorgsam den Bestand, bevor wir etwas Neues entwickeln. Die Angemessenheit der Mittel ist für uns somit nicht nur eine inhaltliche Frage, sondern zieht sich durch alle konstruktiven und ästhetischen Entscheidungen. Manchmal bringt uns das auch zur Empfehlung: »Nicht bauen!«

Welches Produkt oder Material hat zum Erfolg des vollendeten Bauwerks beigetragen?


CF: »One building – one material« – in diesem Sinne war Holz das einzige und das entscheidende Material.

Lage und Situation
Grundriss
Ansichten vom 3D-Modell des Turms
Bauwerk
Umnutzung eines Kletterturms zum »fliegenden Klassenzimmer«
 
Standort
Langseitenrotte 140, 3223 Wienerbruck
 
Nutzung
Bildung, Vermittlung, Kontemplation
 
Auftragsart
Direkte Vergabe
 
Bauherrschaft
Naturpark Ötscher-Tormäuer GmbH, Wienerbruck
 
Architektur
HARDDECOR ARCHITEKTUR, Wien
Johanna Digruber und Christian Fröhlich
 
Fachplaner
werkraum Ingenieure, Wien
 
Jahr der Fertigstellung
2021
 
Maßgeblich beteiligte Unternehmer 
Holzbau Dallago & Zefferer, Halltal
 
Fotos
Christian Fröhlich 

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