Architektur in Bewegung gebracht – in Gedenken an Bruno Latour

Stefan Kurath
20. Oktober 2022
Illustration: Austria-Architects.com
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Nach dem Studium der Philosophie, Anthropologie und Theologie hat der Franzose Bruno Latour Wissenschaftler*innen bei ihrer Arbeit im Urwald und in Laboratorien begleitet. Er hat beobachtet und beschrieben, wie sie beim Gewinn von Erkenntnissen vorgehen. Er hat Wechselwirkungen zwischen Erde, Mikroben, Forschenden, Werkzeugen und Witterungsverhältnissen nachgezeichnet. Er hat beschrieben, wie Messproben in Tabellen, Statistiken, Texte und Diagramme übersetzt werden. Bruno Latour beschäftigte, wie dabei Untersuchungsgegenstände zerlegt werden und es durch Reduktion zu einem Erkenntnisgewinn kommt, wobei die Verbindungen zum Untersuchungsgegenstand aufrecht erhalten bleiben. Erkenntnisse in diesem Sinne sind konstruiert. Es sind jedoch nicht »bloße« soziale Konstruktionen, sondern Resultate soziotechnischer Prozesse, also von Prozessen, bei den menschliche wie nicht-menschliche Akteure, aber auch materielle und kulturelle Bedingtheiten eine Rolle spielen. Wissenschaftliche Tatsachen sind so gesehen nicht weiter unbestreitbar. Sie sind fortan umstritten, da sie von den Produktionsbedingungen abhängen. Den Forschungsbericht nennt Latour riskant, »was bedeutet, dass er leicht scheitern kann – er scheitert meist –, da er weder die völlige Artifizialität des Unternehmens noch seinen Anspruch auf Genauigkeit und Wahrhaftigkeit beiseiteschieben kann«. Damit deckt Latour einen zentralen blinden Fleck der Wissenschaft der Moderne auf, die versucht, wissenschaftliche Erkenntnisse durch Objektivierung von äußeren Einflüssen zu bereinigen, mit dem Ziel, Unsicherheit auszublenden und an Wahrheitsgehalt zu gewinnen. Dieser Wissenschaftspraxis Realismus hinzuzufügen, war Latours Anliegen. Zusammen mit weiteren Protagonist*innen der Wissenschaftsforschung gilt er als Begründer der Akteurs-Netzwerk-Theorie.

Die Unsicherheit, die Latours Arbeit bei den Wissenschaftler*innen ausgelöst hat, war groß. »Glauben Sie an die Wirklichkeit?«, wurde er einst von einem renommierten Psychologen gefragt, der die Wissenschaft durch Latours Arbeit bedroht sah. »Aber natürlich!«, war seine Antwort. Dass Latour die Wissenschaft erforschte, bedeutete nicht, dass er diese infrage stellen oder gar attackieren wollte. Darin liegt ein zentrales Missverständnis. Vielmehr ging es Latour darum, den Wissenschaftler*innen zu noch besseren Erkenntniskonstruktionen zu verhelfen. So legitimiert seine Arbeit in keiner Weise Fake News, wie heute oft unterstellt wird. Vielmehr würde Latours akribische Methodik diese in kürzester Zeit als miserabel konstruierte Hirngespinste politischer und ideologisierter Verflechtungen entlarven – ihnen also jegliche Form von behaupteter Wissenschaftlichkeit absprechen.

Bruno Latour und die Architektur

Die direkte Adressierung der Architektur durch Bruno Latour erfolgte unter anderem mit einem Essay mit dem Titel »Give me a gun and i will make Buildings move«, den er zusammen mit seiner einstigen Doktorandin Albena Yaneva verfasst hat. Sie kritisieren die zumeist in 3D-Modellen dargestellten architektonischen Objekte der Architekturproduktion. Sie fragen: »Where do you place the angry clients and their sometimes conflicting demands? Where do you insert the legal and city planning constraints? Where do you locate the budgeting and the different budget opinions? Where do you put the logistics of the many successive models that you had to modify so as to absorb the continuous demands of so many conflicting stakeholders – users, communities of neighbors, preservationists, clients, representatives of the government and city authorities? Where do you incorporate the changing program specifics?« [1] Latour und Yaneva regen dazu an, Gebäude nicht weiter als Objekte im Raum zu sehen, sondern ihre Entstehungsgeschichte zu betrachten, die Blackbox der Planung zu öffnen und die Wirkungsgeschichte der Handlungsgeflechte menschlicher wie nicht-menschlicher Akteure in das Denken in Architektur und Städtebau einzubeziehen.

Eine andere Sichtweise

Wie anschlussfähig Latours Denken für die Architektur ist, zeigt sich in der Präsenz seines Werks in der Arbeit heutiger Historiker, Theoretiker und auch Praktiker in der Architektur und im Städtebau. [2] Dass Architekt*innen Bezüge zur Philosophie herstellen, ist nicht neu. Sie wollen damit ihrem Denken und Handeln Sinn und Selbstverständlichkeit verleihen. So haben sich in den letzten Jahren beispielsweise Jacques Derridas Denkhaltung und seine Methode der Dekonstruktion oder Peter Sloterdijks Überlegungen zu Blasen und Sphären direkt auf den formalen Ausdruck der Architektur ausgewirkt. Im Gegensatz dazu führt Latours Arbeit nicht zu einer neue Form der Architektur, sondern vielmehr zu einer neuen Sicht auf sie. Sie regt zur empirischen Praxisforschung an. Architekt*innen werden in dieser Betrachtung zu Akteuren unter vielen, denen es durch ihre Handlungspraxis gelingen muss, Allianzen zu bilden, um das Architektonische und Städtebauliche in die Stadtwirklichkeit zu übersetzen. Es steht damit nicht mehr nur die künstlerische, sondern auch die intellektuelle, entwerferische, strategische und taktische Leistungsfähigkeit im Vordergrund ihres Schaffens. Es treten bislang vernachlässigte Fähigkeiten der Architekt*innen in den Vordergrund, die für ihre Zukunft von zentraler Bedeutung sein werden.

Wie in der Wissenschaft hat Latours Praxisforschung auch in der Architektur Unsicherheiten ausgelöst. Bislang hat eine ideengeschichtlich orientierte Architekturgeschichte und -theorie die Entstehungsprozesse und gesellschaftlichen Verwebungen von Architektur und Städtebau in einer Blackbox mit der Aufschrift »Autonomie der Architektur« unter Verschluss gehalten. Die Angst ist groß, dass durch eine wirkungsgeschichtliche Betrachtung der Architektur und des Städtebaus diese entmystifiziert werden. »Bist du gegen die Architektur?«, wurde ich selber schon von einem bekannten Architekten gefragt. Die Angst ist unbegründet. Schließlich offenbart die Praxisforschung eine Vielfalt an neuen Handlungsmöglichkeiten und Rollen, architektonisches Wissen in die Stadtwirklichkeit zu bringen – wodurch Architektur und Städtebau wieder an Relevanz zu gewinnen vermögen.

Gemeinsam an der einen Welt arbeiten

Im Zusammenhang mit der Klimakrise ist gerade dies von großer Bedeutung. Bruno Latours empirische Philosophie hat auch hierzu wichtige Impulse geliefert. Er hat sich eingesetzt »für eine politische Ökologie«, die sich nicht in einem »Kampf der Welten« erschöpft, also die »Natur« benutzt, um Politik zu vereiteln. Vielmehr muss es einer politischen Ökologie gelingen, die Zusammenarbeit an einer gemeinsamen Welt zu befördern. Dies ist keineswegs eine Absage an ökologische Anliegen und Werte. Vielmehr handelt es sich um einen Aufruf, Anschlussfähigkeit auszubilden, sich in ALLES einzumischen und Allianzen zwischen unterschiedlichen Interessen für ökologische Belange zu bilden. Dazu ist es unabdingbar, neue Naturen (Mehrzahl) zu denken und herzustellen.

Übertragen auf die Architektur bedeutet dies, dass es Architekt*innen im Kontext der Klimakrise und um ihrer Zukunftsfähigkeit willen gelingen muss, ihr über zweitausendjähriges Wissen diplomatisch in die gesellschaftlichen Aushandlungsprozesse einzubringen. Die wirkungsgeschichtliche Auseinandersetzung mit Architektur zeigt, dass sie durchaus fähig ist, CO2 über den Planungs- und Bauprozess zu reduzieren, mit dem Bestand zu arbeiten, Sonnenenergie zu nutzen, den Energie- und Ressourcenverbrauch zu reduzieren, zirkuläres Bauen umzusetzen und Bauteile wiederzuverwenden, Biodiversität zu befördern, für Frischluftkorridore zu sorgen, Schatten zu spenden, Regenwasser zu regenerieren und zu versickern, Landverbrauch zu verkleinern und den Wohnflächenverbrauch zu vermindern, ohne auf Raumqualität und architektonische Inhalte zu verzichten.

Wenn sich die Architekt*innen also nicht mehr nur um die Architektur, sondern die Welt kümmern, indem die Disziplin eine viel größere Vielfalt annimmt und sich nicht ideologisch selbst begrenzt, dann ist sie durch Bruno Latour in Bewegung gebracht worden. Er wird uns und der Architektur dadurch für immer erhalten bleiben. 

 


 

[1] Bruno Latour, Albena Yaneva, »Give me a gun and i will make all buildings move«, in: Reto Geiser, »Explorations in Architecture«, 2008, S. 81

[2] Wer sich mit Anschlussarbeiten befassen möchte, dem seien unter anderem »Städtebau bauen« von Angelus Eisinger, »Stadtlandschaften Entwerfen« von Stefan Kurath, der Reader »Relational Theories of Urban Forms« von Daniel Kiss und Simon Kretz, »Prozess Städtebau« entstanden um Joris van Wezemael am ETH Wohnforum oder »Planung ist unsichtbar« von Monika Kurath und Reto Bürgin empfohlen. Dass sich Rem Koolhaas in »Content« (2004) selbst auf Bruno Latour bezieht, mag hingegen niemanden verwundern.

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