Baulücken, Brachen und Leerstellen

Susanna Koeberle
16. Oktober 2020
Die Festivalzentrale der Vienna Design Week befand sich dieses Jahr im Bezirk Meidling. (Foto: Kramar / Kollektiv Fischka, Vienna Design Week)

Dass Design und Architektur in vielerlei Hinsicht direkt miteinander in Beziehung stehen, wird leider häufig ausgeblendet. Die Lebensqualität von Städten ist aber von einem komplexen Zusammenspiel unterschiedlicher Faktoren abhängig. Auch Design reflektiert die vielfältigen Realitäten des Zusammenlebens. Erklärtes Ziel der Vienna Design Week (VDW) ist es, Design in seiner ganzen Vielfalt einem breiten Publikum – sowohl der lokalen Bevölkerung als auch internationalen Fachleuten – zugänglich zu machen. Eine Strategie der Organisator*innen der VDW ist dabei, den Fokus auf die Diversität der Donaustadt zu legen. Die Festivalzentrale befindet sich jedes Jahr in einem anderen Wiener Bezirk, der aus verschiedenen Blickwinkeln (sei es aus architektonischer, soziologischer oder auch ökonomischer Sicht) beleuchtet wird. Dieses Jahr war der 12. Bezirk (Meidling) an der Reihe, ein Quartier, das zurzeit boomt. 

Gerade durch die Mischung aus althergebrachten Strukturen und sich dynamisch entwickelnden Gebieten, aus Wohn-, Verkehrs- und Gewerbenutzung sowie aus Gegenden mit dichter und solcher mit lockerer Bebauung erscheint der Stadtteil als Designlabor geradezu prädestiniert. Seine Geschichte als traditioneller Arbeiter-Bezirk ist ebenso spürbar wie der Einfluss der nach wie vor ansässigen Industrie. Die Identität ehemaliger Ortskerne und die Präsenz unterschiedlicher Communities prägen die Gegend ebenso. Die Festivalzentrale in einem ehemaligen Amtshaus bildete das Herz der VDW. Dort war auch das diesjährige Gastland Schweiz präsent, das in verschiedenen Ausstellungen einen Überblick über helvetisches Designschaffen bot. Wie jedes Jahr organisierten langjährige und neue Partner der VDW spezielle Ausstellungen, die sich unterschiedlichen Aspekten von Design widmeten und mit der Stadt Wien auseinandersetzten.

Das Projekt »Arche« von das BAU ist eine Auseinandersetzung mit innerstädtischen Brachen. Im Fokus steht die Vegetation, die dort gedeiht. (Foto: Philip Podesser / Kollektiv Fischka, Vienna Design Week)
Stadtarbeit

Das Format »Stadtarbeit« siedelt sich in der Regel im Fokusbezirk an. Zum ersten Mal legte die VDW in Zusammenarbeit mit der Erste Bank für den Open Call ein übergeordnetes Motto fest, nämlich Baulücken, Brachen und Leerstellen. Aktueller könnte das Thema nicht sein! Gerade in der derzeitigen Krise (und ganz besonders während des Lockdowns) zeigte sich, wie wichtig solche Leerstellen sind. Leider sind solche Orte heute im urbanen Kontext immer seltener. Das ist gerade im Fokusbezirk so, sodass die beiden Gewinnerprojekte (das »Institut für Wertschätzung« des Kollektivs Raumstation Wien sowie die Aussichtsplattform »Arche« von das BAU) nicht in Meidling umgesetzt werden konnten. 

In solchen Momenten ist auch Design besonders gefordert. Social Design im Speziellen hält ein genauso breites wie effektives Angebot an analytischen und transformativen Methoden bereit, um spezifische Bedürfnisse – etwa in Form von lokalen Angeboten – aufzuzeigen und in der Folge auch zu decken. Die Prämierung der beiden Gewinnerprojekte des »Erste Bank MehrWERT-Designpreis« fand im Rahmen eines gut besetzten Talks statt. Die Architektin Madlyn Miessgang, ihr Kollege Michael Hieslmair und Angelika Fitz, Direktorin des Architekturzentrums Wien, diskutierten unter der Moderation des Architekten Mark Neuner über die Notwendigkeit einer verantwortungsvollen Nutzung des öffentlichen Raums. 

Interessant war die Debatte anlässlich der Verleihung des »Erste Bank MehrWERT-Designpreis«. (Foto: Maria Noisternig / Kollektiv Fischka, Vienna Design Week)
Spannende Diskussionsrunde

Im Gespräch rollten die Expert*innen das Themenfeld zwischen Stadtplanung, zwischenmenschlicher Kommunikation in Krisenzeiten und sozialen Differenzen auf. Dabei warfen sie einen kritischen Blick auf die »Eventisierung« und die wirtschaftliche Optimierung des städtischen Raumes. Künstlerische Projekte dürften nicht instrumentalisiert werden, sondern müssten frei bleiben, so Angelika Fitz. In der Diskussion fiel regelmäßig das Wort »Möglichkeitsraum« (da schwang auch der Musilsche »Möglichkeitssinn« mit). Dass man sich diesen Themen auch auf politischer Ebene widmen müsse, sei vor allem angesichts der Tatsache, dass Wien seit einigen Jahren stark wachse, umso dringlicher – diesbezüglich waren sich alle Diskussionsteilnehmer*innen einig. Die Immobilienbranche hat in der Regel wenig Sinn für Freiräume, meist wird jeder Quadratmeter verplant. 

Auch Leerstand wird unter dem Motto Zwischennutzung verwertet, aus Angst vor einer unkontrollierten Inbesitznahme durch Kulturschaffende oder sonstige »Verdächtige«. Besonders das Kleingewerbe leidet unter dem steigenden finanziellen Druck und der Verwertungslogik, das ist in den letzten Monaten besonders deutlich geworden. Diese komplexen Zusammenhänge lassen sich im Grunde auf eine ganz einfache Frage herunterbrechen: Wem gehört der Boden? Um dies auf politischer Ebene zu verhandeln, brauche es ein Konzept, denn ohne eine übergeordnete Strategie zur Unterstützung von Kultur passiere nichts, so der Tenor der Debatte. Stadtentwicklung muss daher auch dem Nichtplanbaren Raum lassen. 

Die turmartige Aussichtsplattform »Arche« lässt sich demontieren. Sie später an anderen Orten aufzustellen, ist der Wunsch der beiden Urheberinnen von das BAU. (Foto: Philip Podesser / Kollektiv Fischka, Vienna Design Week)
Gewinnerprojekte mit ähnlichem Ansatz

Die beiden »Stadtarbeit«-Gewinnerprojekte reagieren auf diese Problematik in ähnlicher Weise: Sie fungieren als Vergrößerungsglas, das vorhandene Lücken untersucht und belebt. Die Aussichtsplattform »Arche« entstand auf Initiative zweier Architektinnen. Mit ihrem turmartigen Bau schaffen sie auf einer anonymen Baulücke einen Ort, der eine neue Sichtweise auf das Vorhandene eröffnet, insbesondere auf die wilde Vegetation solcher Landschaften (der französische Botaniker Gilles Clément prägte für solche Orte den Begriff »dritte Landschaft«). In verschiedenen Workshops versuchten die Initiatorinnen, Besucher*innen für die Vielfalt des Ökosystems Brache zu sensibilisieren. Die Ruderalvegetation ist in der Tat faszinierend! Solche Formen der informellen Zwischennutzung ließen sich überall realisieren, davon sind die Architektinnen überzeugt. Denn viele Baulücken stehen über Jahre leer. Ihre Vision wäre, den demontierbaren Turm an verschiedene Orte zu transportieren und für eine gewisse Zeit dort aufzustellen.

Das »Institut für Wertschätzung« des Kollektivs Raumstation Wien. (Foto: Patrizia Gapp / Kollektiv Fischka, Vienna Design Week)

Einen ähnlichen Ansatz verfolgt das Projekt »Institut für Wertschätzung« des Kollektivs Raumstation. Jenes ist in verschiedenen Städten aktiv, neben Wien auch in Berlin, Weimar und Zürich. Ausgangspunkt der Recherche sei unter anderem die kollektive Erfahrung des Lockdowns gewesen. Ein Institut betreibt naturgemäß auch Forschung. Ausgehend von der Idee, dass sie den Wert und eben nicht den Preis einer Brache bestimmen wollten, luden die Beteiligten die Nachbarschaft dazu ein, den Ort mithilfe eines Fragebogens zu bewerten. Dabei standen verschiedene Instrumente zur Verfügung, welche auch die sensorischen Qualitäten dieses Freiraums untersuchten. Die kollektive Wertschöpfung durch ein vielfältiges Programm versteht das Institut als Alltagsutopie. Wichtig wäre es, solche Utopien als Inseln in die Realität zu retten, auch außerhalb der VDW. Das Format »Stadtarbeit« kann einen Impuls für Veränderungen geben. 

Die VDW gewährte ungewohnte Einblicke in Innenräume: Der Vintage Shop »ohne butter« zeigte beispielsweise Möbelstücke in einer alten Wohnung. (Foto: Niko Havranek / Kollektiv Fischka, Vienna Design Week)

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