Ein neuer Blick auf die Moderne

Susanna Koeberle
31. Oktober 2024
Blick in die Ausstellung »ELEMENTE. Adam Štěchs Blick auf architektonische Details« im Kunstblättersaal des MAK (Foto: © MAK / Christian Mendez)

Man könnte Adam Štěch eine schwere Reisesucht attestieren. Allerdings muss man dem Architekturtheoretiker und Kurator mildernde Umstände zugestehen. Denn die Früchte seiner Leidenschaft für die Architektur der Moderne lassen sich sehen: In seinem mittlerweile rund 7000 Bilder umfassenden und stetig wachsenden Archiv befinden sich architektonische Raritäten, die man sonst wohl kaum zu Gesicht bekommen würde – selbst dann nicht, wenn man die gleichen Orte wie er besuchte. Vor der Abreise recherchiert der 1986 in Tschechien geborene Theoretiker minutiös. Er weiß genau, welche Bauwerke er sehen will, und investiert viel Zeit in die Organisation seiner Visiten. Štěch ist ein Forschungsreisender und Architekturdetektiv. Man könnte ihn auch als Nerd bezeichnen – im positiven Sinne. Denn es ist ein Glück, dass der Wissenschaftler seine Recherchen mit einem größeren Publikum teilt. Das tut er auf Instagram und seit 2017 auch mit Ausstellungen. 

Dank einer Schau im Museum für angewandte Kunst (MAK) haben Wien besuchende Architektur-Aficionados die Gelegenheit, durch das aufmerksame Augenpaar des Bildersammlers unbekannte Seiten der architektonischen Moderne zu entdecken. Die Schau basiert auf einer Präsentation, die im April dieses Jahres während des Salone del Mobile in Milano in der Dropcity zu sehen war. Sie umfasst rund 2500 Bilder. Entstanden ist dieses aparte Ausstellungsformat in Zusammenarbeit mit Štěchs Kollegen des von ihm mitbegründeten Kollektivs OKOLO. Das Team entwickelte für die Präsentation der Bilder einen schlichten Aluminium-Steckrahmen, der sich einfach auf- und abbauen lässt. Daran hängen die auf Papier gedruckten Fotografien wie auf einer Wäscheleine. Speziell für die Wiener Ausstellung »ELEMENTE: Adam Štěchs Blick auf architektonische Details« liegt der Fokus des ausgewählten Bildmaterials auf Bauwerken in Österreich. 

Fokus Wien: Dieses Detail befindet sich im Zacherlhaus von Jože Plečnik, das zwischen 1903 und 1905 gebaut wurde. (Foto: © Adam Štěch)

Es geht, wie der Ausstellungstitel schon andeutet, um Details. Dass diese überhaupt in den Blick genommen werden, ist nicht selbstverständlich. Denn mit den Reformbewegungen der Moderne setzte eine Typisierung ein, die schließlich in der seriellen Produktion mündete. Die Formenvielfalt, der man in der Ausstellung begegnet, widerlegt allerdings das Klischee einer einheitlichen Moderne. Štěchs Blick auf die Details dieser Periode – grob gesagt umfasst sie den Zeitraum zwischen 1900 und 1980 – ist persönlich. Das betonte der Amateurfotograf auch in einem Gespräch, das während der Vienna Design Week im MAK stattfand. Apropos Amateur: Es ist nicht so, dass Štěch nicht fotografieren kann. Ihn interessiert aber weniger das perfekte Bild als die Diversität seiner Sujets. Und die Menge; denn erst sie macht einen Vergleich zwischen den Motiven möglich. Ziel des Projekts ist die größte Datenbank systematisch erforschter architektonischer Details. Der Bilderjäger hat meist gar nicht so viel Zeit, um zu fotografieren. Schon wie er an die Häuser kommt und dass ihm überhaupt Einlass gewährt wird, gäbe Stoff her für ein Buch, wie der Kunsthistoriker Rainald Franz, der Co-Kurator der Ausstellung, beim Rundgang berichtet. 

Adam Štěch in der Ausstellung »Elements: Unique Details of the 20th Century Architecture and Interior«, die während des Salone del Mobile in der Dropcity stattfand. (Foto: © Vojtech Veskrna)

Die Details – oder Elemente, wie sie in der Schau genannt werden – stehen für das Haus als Ganzes. Meist sind die Bauwerke, die den Theoretiker interessieren, eigentliche Gesamtkunstwerke. Und noch etwas ist den von ihm besuchten Bauten gemein: Es sind in der Regel keine Ikonen, sondern vielmehr vergessene Juwelen. Insofern ist das minutiöse Kartografieren dieser auf der ganzen Welt verstreuten Architekturen ein Appell an unsere Aufmerksamkeit. Denn häufig wird unser Blick gelenkt durch Schubladisierungen und Verallgemeinerungen – nicht nur in der Architektur. Štěchs Bildersammlung ist so gesehen auch eine Sehschule.

Štěchs Bilder sind in »ELEMENTE. Adam Štěchs Blick auf architektonische Details« an Aluminium-Steckrahmen aufgehängt. (Foto: © MAK/Christian Mendez)

Die genaue Ordnung der einzelnen Bilder ist zufällig und folgt keiner bestimmten Logik. Dennoch gibt es eine Gliederung. Dass sich diese an den einzelnen «Elementen» eines Bauwerks orientieren, macht Sinn. Die Besucherinnen und Besucher können eintauchen in ein Universum von Beleuchtungskörpern, Sitzgelegenheiten, Stauräumen, Tischen, Geländern, Türen, Griffen, Fenstern, Böden oder Wänden. Es ist interessant zu beobachten, was diese Anhäufung von Teilstücken mit der Wahrnehmung macht. Zunächst weiß man gar nicht, wo hinschauen. Dann aber zoomt man hinein und entdeckt freudig die Schönheiten dieser Einzelteile, die einem plötzlich wie Kunstwerke vorkommen. 

Der Verdienst dieser Ausstellung ist es auch, Architektur, Design und Kunst miteinander zu verknüpfen. Viel zu oft werden diese Disziplinen als voneinander getrennte Entitäten behandelt. Die porträtierten Häuser beweisen, dass dort das Gegenteil der Fall ist. Gewiss mögen solche Bauwerke Einzelfälle sein. Doch sie zeugen von der Kreativität der Architektinnen und Architekten, die die reine Funktionalität übersteigt. Das muss nicht zwingend Synonym sein mit der großen Geste eines Gesamtkunstwerks. Die Lust, sich kleinen Details zu widmen, das Kultivieren der kleinen Form gewissermaßen, ist gerade bei der jüngeren Generation von Architekturschaffenden wieder stärker zu spüren. Ihnen, aber auch interessierten Laien sei der Besuch dieser Ausstellung wärmstens empfohlen. 

Ein Juwel der italienischen Moderne: die Casa Albero von Giuseppe Perugini, Raynaldo Perugini und Uga De Plaisant, gebaut von 1967 bis 1975 in Fregene (Foto: © Adam Štěch)

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