Gus Wüstemann: »Qualitätsvolle Architektur muss nicht teuer sein«

Cyrill Schmidiger
8. Mai 2020
Wohnhaus an der Feldeggstrasse, Umbau Wohnatelier 2, Zürich, 2017 (Foto: Bruno Helbling)
Gus Wüstemann zählt zu den auffälligsten Gestaltern der Schweizer Szene. Er hinterfragt Konventionen und bricht sie mit seinen Wohnbauten immer wieder auf. Wüstemann versucht, qualitätsvolle Architektur mit geringen Budgets möglich zu machen. Charakteristisch für seine Projekte, die bisweilen polarisieren, ist das aus ihnen sprechende Faible für den mediterranen Lebensstil und die Architektur des Mittelmeerraums. 
Wüstemann studierte Architektur an der ETH Zürich und arbeitete danach in Australien, Indien, England und den Vereinigten Staaten. 1997 gründete er gus wüstemann architects in Zürich. 2004 folgte ein Studio in Barcelona und 2019 eines auf Mallorca. Neben seiner Arbeit als Architekt engagiert er sich als Kurator der Plattform Catalan-Architects und ist seit 2018 im Beratergremium von Barcelonas Bürgermeisterin Ada Colau.

Cyrill Schmidiger: Du interessierst dich sehr für elementare Strukturen und einfache, teils fragmentarische Formen. Ebenso begeistert dich der sinnliche Charakter von schlichten, oftmals naturbelassenen Materialien. Ist das eine Referenz an die Mediterranità im Sinne der anonymen Architektur, wie sie schon Josef Hoffmann auf Capri untersuchte?

Gus Wüstemann: Die mediterrane Kultur hat mich schon immer fasziniert. Nachdem ich 1997 in Zürich mein Architekturbüro eröffnet habe, folgte 2004 ein weiteres Studio in Barcelona. Am Meer zu arbeiten und zu wohnen, das ist ein Traum. Und vielleicht ist es so, dass sich meine Affinität zum Süden auch in einigen Projekten zeigt. Da ist etwa die »Crusch Alba« in der historischen Altstadt von Barcelona: Beim Umbau von diesem Apartment haben wir verschiedene Zeitschichten freigelegt. Historische Elemente korrespondieren nun mit zeitgenössischen Motiven – rohe Backsteinmauern, alte Holzbalken oder ein antikisierendes Wandbild, aber auch moderne weiße Einbauten oder Polycarbonat prägen das Innere. Doch diese fragmentarisch wirkende Ästhetik ist nicht an einen bestimmten Ort oder an eine spezifische Gattung gebunden. Die Transformation eines Wohn- und Gewerbehauses im Zürcher Seefeld demonstriert dies exemplarisch: Hier arbeiteten wir ebenfalls mit einem archäologischen Ansatz und befreiten die historische Substanz von späteren Eingriffen. Dadurch erreichten wir einen »neuen alten« Zustand, der so nie existiert hat. Entstanden ist eine Raumatmosphäre, die an Ruinen, Thermen oder auch Krypten erinnert – und damit unter anderem an Architektur, die wir mit dem Römischen Reich und der Mittelmeerwelt assoziieren.

Bleiben wir bei diesem Projekt. In eurer Entwurfsphilosophie ist Einfachheit ein zentraler Begriff.

Genau. Sie soll Flexibilität garantieren und zeigt sich auf verschiedenen Ebenen: Einfach ist nicht nur die Materialisierung, einfach ist gerade auch der Grundriss. Das Raumkonzept ist fließend – der Raum ist also nicht eine Addition von separierten Bereichen, sondern ein Kontinuum. Dieses Prinzip reduziert die permanenten Grenzen auf ein absolutes Minimum; eine Konstante bilden dabei nur die peripheren Mauern. Innerhalb dieses Rahmens verorten und entfalten sich die Programme flexibel nach den Wohnbedürfnissen. Unsere Architektur soll offen sein für individuelle Aneignung und nicht mit einem konkreten Programm vordefiniert. Die Bewohnerin und der Bewohner sollen frei sein.

Wohnhaus an der Feldeggstrasse (Foto: Bruno Helbling)
Freihampton Genossenschaft, München, Wettbewerb (Visualisierung: gus wüstemann architects)

Mit dem fließenden Raumkonzept und den programmfreien Bereichen ist ein anderer Anspruch verbunden: das antinormative und hierarchielose Wohnen. Du hast das einmal poetisch umschrieben: »Eine Referenz, die sehen und fühlen lässt, was wirklich ist; eine plötzliche Klarheit, unabhängig vom Programm, ohne Hierarchien oder Status; nur ein Hauch von kulturellem Kontext wie eine Ruine in der Landschaft.«

Tradierte kulturelle Codes interessieren uns nicht, davon distanzieren wir uns. Ebenso wenig sollen unsere Projekte erstarrte Bilder reproduzieren oder bauliche Gesten artikulieren, die sich als gesellschaftlicher Spiegel lesen lassen. Architektonisch manifestiert sich das durch eine archaisch, teils auch asketisch anmutende Sprache. Einfache Materialien und eine klare Struktur dominieren über programmatische Aspekte. Durch ihre nahezu unkaschierte Präsenz reduzieren sie eben auch potenzielle Konnotationen auf ein Minimum. Und der Anspruch nach Flexibilität ist mit einer Schichtung von Funktionen verbunden. Das zeigt sich bei einem umgebauten Wohnatelier im Haus an der Feldeggstrasse darin, dass die Badewanne quasi in die terrassierte Struktur der Treppe integriert wurde und die offene Dusche durch die simple Gestaltung kaum noch in Erscheinung tritt. Der Raum ist also multifunktional – und gleichzeitig resultieren daraus normative und hierarchische Brüche.

Den Bruch scheinst du in diesem Projekt aber gerade auch materiell zelebriert zu haben?

Stimmt, denn hier setzten wir dem archaisch anmutenden Bruchstein einfache Materialien entgegen – darunter Beton und Holz, OSB-Platten und Polycarbonat. Doch die zeitgenössischen Werkstoffe integrieren sich tendenziell harmonisch in den rustikalen Bestand, nur selten wird das architektonische Gesamtbild aufgebrochen. Daher ist eher von einer Collage zu sprechen, also von einem Kombinieren unterschiedlicher Materialien. Und dabei existieren Kategorien wie »high« und »low« nicht, alle Elemente sind gleichwertig.

Mehrfamilienhaus an der Langgrütstrasse, Zürich, 2019 (Foto: Bruno Helbling)
Mehrfamilienhaus an der Langgrütstrasse (Foto: Bruno Helbling)
Mehrfamilienhaus an der Langgrütstrasse, Grundriss 1. bis 3. Obergeschoss

Dass vom Material eine enorme, ja fast suggestive Kraft ausgeht, demonstriert auch dein neuster Bau an der Langgrüttstrasse in Zürich-Albisrieden. Dort zeigt sich zudem einmal mehr, dass deine Architektur nicht arm und banal ist, sondern einen bescheidenen Luxus vermittelt. Ist gestalterische Reduktion auch eine Chance?

Ja, denn das Fokussieren auf eine bestimmte Materialpalette bedeutet eben nicht, dass damit keine ausdrucksstarke Präsenz generiert werden kann. Schalungsspuren und Maserungen muten teils wie Ornamente an. Die architektonischen Formen sind elementar, vielleicht sogar minimalistisch und neobrutalistisch, ohne aber konkrete Assoziationen mit tradierten kulturellen Konzepten zu wecken. Sie veranschaulichen vielmehr das Prinzip von »less is more«. Und anders als bei Ludwig Mies van der Rohe, der ja viel mit edlem Marmor arbeitete, meint »less« auch »low« – qualitätsvolle Architektur muss nicht teuer sein.

Gleichzeitig ist damit ein ressourceneffizientes Denken verbunden. Hier hast du mit dem Wohnblock in Zürich-Albisrieden neue Maßstäbe gesetzt.

Der teilweise aus rohem Recyclingbeton gefertigte Ersatzneubau entstand im Auftrag der Baechi Foundation, für die wir untersucht haben, wie Wohnen effizienter und kostengünstiger werden kann. Dazu tragen einerseits die schlichte Materialisierung mit Beton und Holz sowie die auf ein absolutes Minimum reduzierten Einbauten bei, anderseits aber ebenso die einfachen Grundrisse. Flächenmäßig sind die Wohnungen klein; doch da die Räume fließend konzipiert sind – Schiebetüren trennen die einzelnen Bereiche nie komplett, denn sie berühren den Boden nicht – und die Wohnprogramme geschichtet und peripher an der Außenwand liegen, erscheinen sie wesentlich größer als sie sind. In den Küchen ist jeweils ein Tisch ausklappbar oder der Herd lässt sich verstecken, um die Ablage anders zu gebrauchen. Multifunktionale und flexible Nutzungsmöglichkeiten bieten vielfältige Raummomente. Ein besonderes Merkmal sind die ausgeschnittenen Patios. Sie bilden nicht nur zugleich Wohn- und Außenräume, sondern funktionieren durch die West-Ost-Ausrichtung auch als Sonnenbrücken. Diese Elemente verbinden die Architektur mit der Natur und sorgen für ein mediterranes Feeling – insbesondere im Sommer, wenn eine erfrischende Brise durch den Patio weht.

»Can Bosc i Platja«, Cala Llombards (Visualisierung: gus wüstemann architects)
»Can Jungla«, Cala Llombards (Visualisierung: gus wüstemann architects)

Die Mediterranità ist in eurem Büro nun um eine Dimension reicher: Neu arbeitet ihr auch in Cala Figuera auf Mallorca. Welche Projekte entstehen dort gerade?

»Tres Hermanas« außerhalb von Ses Salines im Süden Mallorcas war unser erstes Projekt. Hier entsteht ein holistic retreat: Um einen offenen Hof herum sind ein Gemeinschaftsraum und drei lange, in verschiedene Himmelsrichtungen ausgreifende Privattrakte gruppiert. Dass diese zeitgenössische Finca eine Oase ist, vermitteln auch die archaisch anmutenden traditionellen Steinmauern. Nun arbeiten wir an mehreren Wohnbauten. Mit der »Can Bosc i Platja« in Cala Llombards realisieren wir ein Strandhaus im Wald. Die simple, von Diagonalen bestimmte Betonstruktur passt sich in ihrer Form elegant der topografischen Situation am Hang an. Ein wichtiges Element bildete die Interaktion mit der Natur, die Innenräume sind durch die großen Öffnungen hell. Reduzierte Volumen prägen auch die im Aufriss trichterförmige »Can Jungla«. Deren begrünte Dachterrassen werden von einer zweigeschossigen Betonstruktur getragen, die alle Installationen enthält. In Santanyi haben wir mit der Typologie der »Can Possessió« zudem ein Landhaus entwickelt, das auf dem Pagès basiert. Dabei handelt es sich im Grundriss um ein Viereck aus Stein, das quasi die Urhütte Mallorcas darstellt. Ja, die mediterrane Kultur fasziniert mich. Aber nicht nur in der Architektur: Unser Studio in Cala Figuera liegt mitten im pittoresken Hafen, bloß 20 Meter vom Schiffsplatz entfernt – die Baustellen erreichen wir mit unserer Llaut, einem typisch mallorquinischen Fischerboot aus Holz…

»Can Possessió«, Santanyi (Visualisierung: gus wüstemann architects)

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