Leider unvollständig

Oliver G. Hamm | 4. Juli 2025
Buchcover: © Birkhäuser

Vor dem Kauf eines Buches auch den Untertitel zu lesen und im Buch ein wenig zu blättern, hilft, sich manche Enttäuschung zu ersparen. »Traditionelle Architektur in den fünf Klimazonen« – so lautet der Untertitel eines »Architecture Follows Climate« (warum eigentlich auf Englisch?) betitelten Buches, das im renommierten Birkhäuser Verlag erschienen ist. Wer nun aber ein allumfassendes Kompendium über eine große Bandbreite an unterschiedlichen – der jeweiligen Klimazone angepassten – Bauweisen erwartet, aus dem sich möglichst praxisnahe Erkenntnisse für das heutige Planen und Bauen vom Äquator bis zu den arktischen Regionen ableiten ließen und das möglichst auch mit zahlreichen Fotos und Detailzeichnungen illustriert sein sollte, der wird dieses Buch schnell enttäuscht wieder zuklappen.

Der Autor Alexandros Ioannou-Naoum ist Architekt und seit November 2023 Universitätsassistent an der TU Wien – am Institut für Hoch- und Industriebau, Forschungsbereich Integrale Planung. Er beginnt sein Buch ganz klassisch mit einem langen Vitruv-Zitat, das – auch aufgrund einer vielleicht nicht ganz glücklichen Übersetzung – erst einmal verdaut und verstanden werden will: »So wie das Universum von der Natur hinsichtlich der Erde organisiert ist, durch die Neigung des Tierkreises und die Bahn der Sonne und ihrer Verschiedenheit, so müssen auch die Gebäude in Bezug auf die besonderen klimatischen Verhältnisse in den verschiedenen Gegenden ausgerichtet werden.« (Vitruv VI, I, 1–2)

Der über 2000 Jahre alten Erkenntnis des römischen Architekten und Theoretikers Vitruv, die – wenn wir die Exzesse und Irrwege einer gerade nicht dem Klima angepassten Architektur in vielen Teilen der Welt betrachten – seit einigen Jahrzehnten doch arg vernachlässigt wird, folgen eine kurze Einführung und ein Grundlagen- und Überblickstext (»Das globale Klima«) in Form eines Auffrischungskurses in elementarer Physik, der zudem die fünf Klimazonen der Erde erläutert. Den Großteil des über 400 Seiten umfassenden Buches nimmt dann die Analyse vernakulärer Architekturen in der tropischen, der trockenen, der gemäßigten, der kontinentalen und der polaren Zone ein. Diese ähnlich strukturierten Kapitel, die sich den jeweiligen klimatischen Verhältnissen, der Gestaltung, den Öffnungen und Belüftungsstrategien von Gebäuden, der »richtigen« Materialwahl und teilweise auch Aspekten solarer Wärmegewinne, der Beschattung und Bepflanzung sowie typischen architektonischen Elementen widmen, sind – auch für Laien – leicht verständlich geschrieben. Wer Anregungen für Baugeschichts- und Bauphysikvorlesungen sucht, wird hier ohne Zweifel gut bedient.

Wer sich aber konkrete Erkenntnisgewinne für das heutige Bauen in einer Zeit des sich zuspitzenden Klimawandels erhofft, der wird von diesem Buch enttäuscht sein: Zum einen, weil es zwar sehr anregend sein kann, vieles über Höhlenbauten (etwa in Guadix, Spanien), eingegrabene Bauwerke (beispielsweise in Matmata, Tunesien) oder über Torfhäuser in Island zu erfahren – aber diese Bautechniken werden mit Sicherheit keinen großen Anteil an der Lösung der Frage haben, wie wir künftig die enorme Nachfrage insbesondere nach Wohnraum klimagerechter als in den letzten Jahrzehnten lösen könnten. Zum anderen, weil der Autor sein Buch zwar mit zahlreichen Systemzeichnungen illustriert, den Lesenden aber nicht ein einziges Foto darbietet – dabei sollte es in dem Buch (siehe Titel und Untertitel) um Architektur, also auch um Raumatmosphäre – und nicht nur um deren funktionale Schemata gehen.

»Ziel ist es, Architekt:innen und Planer:innen zu ermutigen, die verschiedenen im Zuge der Untersuchung erläuterten vernakulären architektonischen Lösungsansätze früherer Gesellschaften in deren zukünftige Gebäudekonzeption miteinzubeziehen, um Bauwerke autonomer und nachhaltiger zu gestalten.« Dem eigenen Anspruch – formuliert am Ende seiner Einführung – wird Alexandros Ioannou-Naoum leider nicht gerecht. Er hat eine grundlegende Studie zu traditionellen Architekturen in den fünf Klimazonen der Erde vorgelegt, das ist durchaus verdienstvoll. Dass im Kapitel »Bauen in der gemäßigten Zone« – zu der unter anderem große Teile Mitteleuropas gehören – das Fachwerkhaus als eine der am besten an das örtliche Klima angepassten und seit Jahrhunderten bewährten Bauformen nicht einmal erwähnt wird, muss dem Autor jedoch als großes Versäumnis angekreidet werden. 

Vorgestelltes Projekt 

schneider+schumacher

Mathildenhöhe

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