Verschwiegene Biografien – Wolfgang Voigt und Uwe Bresan verschaffen homosexuellen Architekten Sichtbarkeit

Ulf Meyer
14. Juli 2022
Herbert Taylers Entwurf für die Räumlichkeiten eines Sportvereins entstand in den 1930er-Jahren. Bemerkenswert ist die Darstellung von bärtigen, nackten Männern mit roten Socken auf dem geplanten Wandbild. (Zeichnung aus Elain Harwood und Alan Powers (Hrsg.), »Tayler and Green, Architects 1938–1973«, London, 1998, in: Wolfgang Voigt und Uwe Bresan (Hrsg.), »Schwule Architekten«, Wasmuth & Zohlen, 2022)

»Vielfalt ist Wirklichkeit geworden«, schreibt Wolfgang Voigt, einst stellvertretender Direktor des Deutschen Architekturmuseums (DAM), in seiner Einleitung zum Buch »Schwule Architekten«, das er gemeinsam mit Uwe Bresan herausgegeben hat. »Aber«, fährt er fort, »in der Architekturgeschichte ist die Ent-Diskriminierung noch nicht angekommen«. Bresan derweil, bis 2020 stellvertretender Chefredaktor der AIT, verortet die Liberalisierung im Umgang mit Homosexuellen in den Vereinigten Staaten im Jahr 1969. Anders jedoch in Europa: »In Deutschland kam es durch die Änderung des Paragrafen 175 erst 1994 zu einer Liberalisierung«, schreiben Bresan und Voigt. Im Sinne der Diversität und der Chancengleichheit in der Architektur besteht weiter großer Nachholbedarf – nicht nur in Bezug auf Architektinnen.

Hat die Persönlichkeit von Architekturschaffenden einen Einfluss auf ihr Werk? Für Bresan und Voigt ist die Antwort klar: »Die Person und ihre sexuelle Orientierung sind nicht uninteressant, sondern relevant«. Die beiden Autoren sind der Auffassung, dass die Interpretation eines Werks unter Berücksichtigung der Biografie des jeweiligen Urhebers oder der Urheberin in Kunst-, Musik-, Film- und Literaturgeschichte gängige Praxis ist – nicht aber in der Architektur. Voigt und Bresan schreiben im Vorwort: »Selbstverständlich darf die sexuelle Identität des Künstlers berücksichtigt werden. Sie muss mitunter sogar Eingang in die Deutung finden: Was verstünden wir von David Hockney, Pjotr Iljitsch Tschaikowski, Luchino Visconti oder Thomas Mann ohne das Wissen um deren Homosexualität?« Und weiter: »Das Werk soll für sich sprechen, sein Autor wegen eines Details nicht benachteiligt sein. Das ist nobel gedacht und trotzdem unbefriedigend, weil es den sozialen Kontext ignoriert und Handicaps nicht zulässt. Der homosexuelle Mann war mit einem Bein im Gefängnis. Seine Orientierung bedeutete Zwang zur Heimlichkeit und Anlass zu Schuldgefühlen und Depression; stets mit Gefahr verbunden; mit Skandal und Verlust der bürgerlichen Existenz«. Dass die Mehrzahl der im Buch vorgestellten Architekten skandalfrei existierte, ändert nichts an der Tatsache, dass sie fortwährend einer mindestens latenten Gefahr ausgesetzt waren. Erst parallel zur AIDS-Krise in den 1980er-Jahren, als der vermeintlichen »Schwulenkrankheit« auch Architekten zum Opfer fielen, begann sich das Tabu etwas zu lockern.

Fonthill Abbey wurde um 1800 erbaut und diente William Beckford als abgelegener Wohnsitz. (Zeichnung in: Wolfgang Voigt und Uwe Bresan (Hrsg.), »Schwule Architekten«, Wasmuth & Zohlen, 2022)
Sexistische Klischees in der Architekturtheorie

»Louis Sullivan may have been homosexual« – mit diesen Worten begann das erste Outing der Architekturgeschichte in Robert Twomblys Biografie des amerikanischen Architekten. Sullivans Sinn für Ornamentik war für Twombly Ausdruck einer »feminin-emotionalen« Seite. Weil er Sullivans Vorliebe für florale Dekoration als Ausdruck einer homosexuellen Neigung deutete, wurde Twombly vorgeworfen, sexistische Stereotypen zu bedienen. 

Ein viel beachtetes Coming-out erlebte die Architektenschaft indes 1996, als sich Philip Johnson (1906–2005) für das Cover des Schwulenmagazins Out porträtieren ließ. Franz Schulze berichtete anschließend in seinem Buch über Johnsons Liebhaber. Während die Publikation in den Vereinigten Staaten überzeugt habe, sei sie in Europa als geschwätzig und kapriziös abgetan worden, merkt Voigt dazu an.

Die Architekten Percier und Fontaine waren unzertrennlich. Für ihren berühmtesten Auftraggeber, Napoleon, entwarfen sie unter anderem die Inneneinrichtung des Château de Malmaison. (Foto: Gilles Messian, Creative Commons)
Bedrohung, Homophobie, Ausgrenzung – die Arbeitsbedingungen homosexueller Gestalter

Bei deutschen AIDS-Toten wurde auf Diskretion geachtet. Oft wurde die Diagnose verheimlicht. Es hieß dann, ihr Leben sei nach »schwerer Krankheit« zu Ende gegangen. »So will es scheinen, als sei nie ein deutscher Architekt an AIDS gestorben«, resümiert Voigt. Dass fast die Hälfte der homosexuellen Architekten mit schwulenfeindlichen Äusserungen konfrontiert ist, fand das Architects’ Journal bei einer Umfrage heraus. In den Vereinigten Staaten organisierten sich homosexuelle Architekt*innen in den 1990er-Jahren in der Organization of Lesbian and Gay Architects and Designers (OLGAD). In Deutschland hingegen gibt es einen ähnlichen Verband (noch) nicht. Für Voigt ist die Angst, abgelehnt zu werden, der Beweggrund dafür, dass homosexuelle Architekturschaffende vorsichtig sind. »Dass ihnen, die der Spießer mit Hedonismus in Verbindung sieht, Solidität zugebilligt wird, darauf können sie nicht bauen«, schreibt er desillusioniert. 

Der Hauptteil des Buches breitet interessante Fallbeispiele aus. Den Autoren geht es bei den Präsentationen aber nicht darum, einen schwulen Entwurfsstil nachzuweisen. Das unterscheidet sie von anderen, etwa von Susan Sontag, die einen Zusammenhang von sexueller Neigung und Gestaltung suggeriert. Sontag stellt in ihrem Essay »Notes on Camp« einen Zusammenhang her zwischen Homosexualität und »affektierten« oder »kitschigen« Entwürfen. Aaron Betskys Buch »Queer Space. Architecture and Same-Sex Desire« beleuchtet den Zusammenhang differenzierter. Das Interesse der Autoren in »Schwule Architekten« gilt dagegen vielmehr der Frage, wie sich die Orientierung auf die Arbeit als Architekt auswirkte. Sie fragen nach den Umständen, unter denen homosexuelle Gestalter gearbeitet haben: »Es geht um die Rekonstruktion prekärer Existenzen und Bedingungen, unter denen Architekten ihren Beruf ausübten – sei es durch die Abschirmung des Privaten oder den Verzicht auf ein Sexualleben. Zum anderen interessiert der Einfluss von schwulen Netzwerken unter Kollegen. Dass sich die Forschung zu diesem Thema nur auf einer schmalen Quellenbasis aufbauen lässt, ist dem Gegenstand geschuldet. Die sexuelle Orientierung war ein Geheimnis.« Zum Vorschein kamen bei den Recherchen zum Buch zwar auch »Entwerfer mit Hang zu Stil, Dekor, Eleganz und Oberfläche, die dem schwulen Klischee entsprechen«, wie Voigt es formuliert, aber eben vor allem herausragende Konstrukteure, Modernisten und begabte Städtebauer.

Der Architekt William Alexander Levy entwarf das Hangover House in Laguna Beach für den Schriftsteller Richard Halliburton und seinen Liebhaber Paul Mooney. Am Ende zog der Architekt bei den beiden ein. (Foto © University of California, Santa Barbara, Sammlung Architektur und Design)
Foto © University of California, Santa Barbara, Sammlung Architektur und Design

Eines der schönsten, beeindruckendsten, aber auch beklemmendsten Beispiele im Essay-Teil ist Paul Rudolph. Sein New Yorker Penthouse am Beekman Place eröffnet ein reiches Spiel mit Raum, der sich über mehrere Ebenen hinweg öffnet und vielfältige Blick- und Wegebeziehungen generiert. »Die Sinne werden durch gläserne Wände und Böden, verspiegelte Oberflächen und semitransparente Raumabschlüsse verwirrt«, schreibt Voigt. Dem Apartment wurde eine geheime zweite Wohnung einbeschrieben. Der »offizielle« Wohnbereich öffnet sich über große Panoramascheiben zur Umgebung. Über die Existenz eines weiteren Wohntrakts wurden Besucher*innen im Unklaren gelassen. In ihm lebte Rudolphs Lebensgefährte. In den Grundrissen werden seine Wohnräume als »Bibliothek« beziehungsweise als »Gästetrakt« bezeichnet. Während in den Haupträumen Weißtöne dominieren, überwiegen in den »geheimen« Räumen dunkle Oberflächen und vergleichsweise harte Materialien. »Schwarze Ledersofas und Einbauten aus poliertem Stahl lassen Assoziationen an schwule Milieus entstehen«, so Voigt. In einem Badezimmer installierte Rudolph einen gläsernen Waschtisch, der in den Luftraum der sogenannten Bibliothek auskragte. Dem Whirlpool in seinem Badezimmer gab er einen gläsernen Boden, der sich über Wagners Bett öffnete.

Der Architekt Patrick Gwynne verwirklichte 1938 das Projekt The Homewood in Esher in der Grafschaft Surrey. Er bewohnte das Haus zeitlebens. (Foto © The National Trust)
Schwule Architekten. Verschwiegene Biografien vom 18. bis zum 20. Jahrhundert

Schwule Architekten. Verschwiegene Biografien vom 18. bis zum 20. Jahrhundert
Wolfgang Voigt und Uwe Bresan (Hrsg.)

150 x 230 Millimeter
304 Seiten
163 Illustrationen
Softcover
ISBN 9783803023780
Wasmuth & Zohlen Publishing
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Chen Kuen Lee erhielt trotz seiner Begabung nie öffentliche Aufträge, denn er war schwul. Eduard Kögel hat sich mit der Biografie des Schülers und wichtigen Diskussionspartners von Hans Scharoun befasst. Als er zu einem früheren Zeitpunkt in einem Artikel auf die Homosexualität des Architekten zu sprechen kam, wurde die Passage von einer deutschen Redaktion kommentarlos gestrichen.

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