Ein neues Stück Berlin

Ulf Meyer
24. Januar 2018
Übersicht Quartier Heidestraße (Visualisierung: STK)

Das Areal nördlich des Hauptbahnhofs und entlang der Heidestraße in Berlin ist die große Hoffnung der Hauptstadt: Wie zwanzig Jahre zuvor am Potsdamer Platz soll hier eine Geschäftsstadt entstehen, die Ost und West wieder miteinander verknüpft – und Stadt und Bauherr Geld in die Kasse bringt. Aus dem städtebaulichen Wettbewerb für die Urbanisierung des ehemaligen Güterbahnhofareals war das Kölner Büro ASTOC als Sieger hervorgegangen, das mit der HafenCity in Hamburg eine wichtige Referenz vorzuweisen hatte. Der Entwurf für das Gelände zwischen Invalidenstraße, Perleberger Brücke, Fernbahntrasse und Spandauer Schifffahrtskanal sah eine Bebauung in Blockbauweise nach europäischer Art und die Anlage eines Stadthafens vor. Um ihn herum sollte ein großstädtisches Quartier gebaut werden mit Kunstcampus, Marina, Restaurants, Wohnungen und Büros.

Trotz hoher Dichte sah ASTOCs Entwurf für die programmatisch Europa-City genannte Neustadt viel öffentlichen Raum vor und einen bis zu 30 Meter breiten, unbebauten Uferstreifen entlang des Kanals als öffentliche Promenade. Die Wohnhäuser mit ca. 1'200 Wohnungen folgen der Berliner Traufhöhe. Hochhäuser gibt es nur in den Büroquartieren am Hamburger Bahnhof und am Nordhafen. Drei neue Brücken sollen das Quartier besser an die bestehende Stadt ringsum anbinden. Entlang einer Bahntrasse sollen Gewerbebauten die Wohnhäuser vom Verkehrslärm abschirmen.
„Das Quartier wird für Millionen von Gästen der erste Eindruck von Berlin sein und ist deshalb eine wichtige Visitenkarte“, schrieben ASTOC. Ihr Ziel war es nicht, eine „cleane Musterstadt“ (so ASTOC-Gründer Markus Neppl), sondern ein lebendiges Bahnhofsviertel zu entwerfen. Das Quartier dürfe nach Willen seiner Planer „normaler“ als der Potsdamer Platz sein, und das Potential bekommen, sich zum Kunstviertel zu entwickeln.

Berlin entdeckt derzeit seine Wasserlagen neu und das Hafenbecken der Europa-City war als Magnet des Viertels geplant. Die zentrale Heidestraße soll ein „klarer und präziser Stadtraum“ sein. Anders als bei der HafenCity in Hamburg wird bei diesem Beispiel die Planung von nicht-städtischen Grundstückseigentümern bestimmt, allen voran der CA IMMO AG. Die Gefahr, dass allein profitable Nutzungen vorgesehen werden, ist also in der Berliner ASTOC-Stadt noch höher als in Hamburg.
In jüngster Zeit sind vier Wettbewerbe entschieden worden, deren Ergebnisse die Zukunft der Europa-City auf Generationen hin prägen werden. Sie stricken die Muster, die mit den ersten fertiggestellten Gebäuden bereits angelegt waren, weiter.

Wohnen und Gewerbe im südlichen Mischgebiet (Visualisierung: CKRS Architekten)

Mischgebiet Süd: CKRS Architekten
​Für das südliche Mischgebiet planen CKRS Architekten (Maria Clarke, Roland Kuhn, Daniel Rozynski und Susanne Sturm) Wohnen, Gewerbe, ein Hotel und eine Kita. Ihr Gebäudekomplex gliedert sich in einen schmalen, sechsgeschossigen Riegel in Richtung der Bahngleise, einen zwölfstöckigen Wohnturm mit Quartiersplatz und eine Klammer mit sieben Etagen, in der ein Hotel zur Heidestraße vorgesehen ist. Die Architekten entwickelten einen nach Nutzungen unterteilten Baukörper, der dennoch eine Einheit bildet. Die „Berliner Mischung“ und die „industrielle Anmutung“ der Gebäude ist ein „Bezug auf die Geschichte des Ortes“. Als südlichstes Teilgebiet schließt es an den Bestand an und leitet zum zentralem Stadtplatz über.

Ganz zentral: 170 teilweise mietpreisgebundene Wohnungen (Visualisierung: ROBERTNEUN)

Sondergebiet: ROBERTNEUN Architekten
Das Herzstück des Quartiers für Wohnen, Gewerbe und Einzelhandel wird von den Helden der Berliner Baugruppen-Bewegung, dem Architekturbüro Robertneun, entworfen. Sie konnten sich mit einem „Block am Stadtplatz“, einem Ensemble mit Lauben- und Arkadengängen aus Ziegelstein durchsetzen, ebenfalls als „Erinnerung an die industrielle Vergangenheit des Areals“ tituliert. Rund 170 Wohnungen sind hier vorgesehen – 25 Prozent davon mietpreis- und belegungsgebunden. Als „architektonischer Glanzpunkt“ bildet der Entwurf den Auftakt der Bebauung entlang der Heidestraße.

Gewerbegebiet an der Bahntrasse (Visualisierung: EM2N Architekten)

Gewerbegebiet: EM2N Architekten
​Für das Gewerbegebiet entwarfen EM2N aus Zürich lange Gebäuderiegel entlang der Bahntrasse, um die Wohnbauten vom Lärm der Züge abzuschirmen. Sie enthalten Büros, Gewerbe und Einzelhandel. Für den Rand der Bahnfläche sind hohe Bauten vorgesehen: Zehn leicht unterschiedlich gestaltete Bauten, die sie zu einer langen Großform zusammenfügen, fünf davon als zwölfgeschossige Türme. „Heterogenität innerhalb einer ordnenden Grundstruktur“ nennen die Schweizer Architekten das. „Ähnlichkeit und Differenz“ der Bauten und das Zusammenstellen der Baukörper in einer „feinen Matrix“ versprechen sie. Die Fassaden aus Betonfertigteilen sollen „hell“ sind. Täglich werden sie von Tausenden Menschen gesehen werden, die in Zügen und S-Bahnen an dem langen Haus vorbeifahren.

Hochhaus am Europaplatz in der Europacity Berlin, Allmann Sattler Wappner Architekten (Visualisierung: © CA Immo)

Hochhaus als Auftakt: Allmann Sattler Wappner Architekten
Das Bürohochhaus der Immobiliengesellschaft CA Immo soll über dem Tunnel der neuen S-Bahnlinie 21 gebaut werden und der Unternehmensberatung KPMG als Domizil einzieht. Allmann Sattler Wappner Architekten aus München lassen den Turm aus einem profilierten Sockel herauswachsen und ihn mit zunehmender Höhe glatter, transparenter und damit abstrakter werden. Ein Atrium soll das Zentrum des Sockelgebäudes prägen. Von „nobler Eleganz“ und „angemessener Eigenständigkeit im Dreiklang der profilbildenden Hochhäuser am Standort“ sprechen die Architekten.

Ob die Europa-City jemals ein lebendiger Stadtteil Berlins wird, ist derzeit noch nicht ausgemacht. Geplant sind Wohnungen für insgesamt 2000 Menschen und über 10'000 Arbeitsplätze. Haupteigentümer der Flächen sind das CA Immo, ehemals Vivico, die Deutsche Bahn sowie das Land Berlin. Von ihrer Klugheit, mehr als Hotelzimmer und teure Eigentumswohnungen zu schaffen, wird der städtebauliche Erfolg der Europastadt einst ebenso abhängen wie von den Vorgaben der Stadtplaner und Architekten. Die zentrale Achse von Berlins neuestem Stadtteil, die Heidestraße, wurde 2016 bereits ausgebaut. Vom Europaplatz aus betrachtet, benötigt man noch Fantasie, um sich hier einen vitalen, großstädtischen Boulevard auszumalen. Aber das südliche „Tor zur Europacity“ ist bereits gebaut. Der Tour Total von Barkow Leibinger und das 50-hertz-Hochhaus von LOVE architecture formen bereits einen vielversprechenden Auftakt.