Einfach hygge!

Ulf Meyer
11. Juli 2018
Das Meeres-Schwimmbad in Sorenga/Norwegen, entworfen von LPO Arkitekter, ähnelt den Seebadeanstalten in Helsinki und Aarhus auf's Haar. (Bild: Tove Lauluten)

Wenn man Kopenhagen “mega-hyyge“ nennen würde, wäre das ein Kompliment? Das dänische Mode-Adjektiv für „wohnlich“ hat längst Eingang auch in den deutschen Hipster-Wortschatz gefunden, aber seine Konnotation auf Gebäude und städtische Räume angewandt ist derzeit Gegenstand einer lebhaften Diskussion. Denn die Liebe zum Städtebau für Bohemiens kann schnell zur Falle werden, wenn wirtschaftliche und soziale Zukunftsvorsorge unterbleibt. So lautet jedenfalls die These, wie sie von dem norwegischen Trendforscher Ståle Økland vertreten wird. Sein Credo: „Mehr Jobs sind für die urbane Attraktivität wichtiger als neue Szene-Cafés.“

Zur Eröffnung einer großen, schönen Ausstellung in dem allseits beliebten Felleshus der Nordischen Botschaften am Berliner Tiergartenrand mit dem Titel „Nordic Urban Spaces“ zeigte sich schnell, wie weit oft Binnen- und Außensicht und Bild und Wirklichkeit auch beim Thema Stadtgestaltung in den fünf nordischen Ländern auseinanderklaffen. Nordeuropäer gelten als Meister der „public diplomacy“ – ein Land wie Dänemark beispielsweise nicht zu mögen, erscheint unmöglich. Die nordeuropäischen Städte landen regelmäßig auf den vordersten Plätzen, wenn Listen der Metropolen mit der höchsten Lebensqualität erstellt werden. Wettbewerbs- und Baukultur gelten als vorbildlich. Die ebenfalls brillante Architekturvermittlung steht bisweilen – wie derzeit in der Berliner Ausstellung zu sehen ist – im Dienst der Werbung für das gute Leben im Norden des Kontinents. Warum auch nicht? Die Berliner Ausstellung zeigt nach Selbstauskunft „gelungene Beispiele nordischen Bauens, die stets durch Funktionalität und Nachhaltigkeit, Rücksicht und Eleganz und die Einbindung der Natur hervorstechen“ und „das Leben in der Stadt schöner machen“. Eine putzige Beschreibung für moderne Planungskultur. „Hygge“ eben.

Die Tapiola-Station der neuen Ost-West-U-Bahn in Finnland, entworfen von APRT Architects, dient dem Bürozentrum von Espoo (Bild: Timo Kauppila)

Die Kuratorin der Schau, Angela Million, Städtebauprofessorin an der TU Berlin, hat mit ihren Studenten für die Ausstellung fleißig 41 Gebäude und Platzgestaltungen aus ganz Nordeuropa in Wort, Bild und Modell zusammengetragen: Eine wüste Mischung, die von einsamen Brücken aus Island bis zum hippen Sauna-Haus in Finnland reicht. Probleme werden dabei nicht benannt, der pressierende Wohnungsbau beispielsweise als Thema gar nicht touchiert. Das ist erstaunlich, denn der gravierende Wohnungsmangel – ausgelöst nicht nur durch den massiven Flüchtlingszustrom speziell in Schweden –, lässt Rufe nach der Wiedereinführung des Massenwohnungsbaus laut werden: Gezeigt werden eben „schöne“ Orte, an denen gesunde, wohlhabende Weiße überteuerte Biere trinken und ihre Kinderwagen und SUVs ausfahren können. „Innovativ und klar, durchdacht und partizipativ – so präsentiert sich die nordische Architektur und beweist, dass Funktionalität und Nachhaltigkeit, Rücksicht und Eleganz einander nicht ausschließen.“ Auf diesen einfachen Nenner bringt es der Pressetext mit Fanfare.

Der Bahnhof "Alvar Aalto Universität", entworfen von ALA Architects aus Helsinki, spielt auf die Geometrien des finnischen Altmeisters der Baukunst an. (Bild: Tuomas Uusheimo)

In Wahrheit zeigen die Ausstellung und auch die anregende Diskussion anlässlich der Vernissage: Was nach Gefälligkeit, guten alten sozialdemokratischen Muster-Demokratien und gegebenenfalls egalitärer Propaganda und Langerweile klingen mag, hat mit der Realität der nordischen Städte derzeit wenig zu tun: Der Architektur-Talk mit Karin Svensson vom Schwedischen Zentrum für Architektur und Design, genannt ArkDes, und Nicolai Strøm-Olsen gab ganz andere Anstöße als die Schau selbst: Strøm-Olsen, Gründer der Zeitschrift „KUNSTforum" und Wahl-Berliner aus Oslo beklagte die fast flächendeckende Selbst-Ähnlichkeit der architektonischen Projekte – zumindest im skandinavischen Teil Nordeuropas: Was Schweden hat, brauchen Dänemark und Norwegen umgehend auch – und umgekehrt. Impulse und Geschmäcker sind bis zur Unkenntlichkeit deckungsgleich. Viel fundamentaler ist Strøm-Olsens Ansatz bezüglich der städtischen Ökonomie: Wenn sich die Großstadtbewohner der post-industriellen Stadt der Zukunft "Schlaufon"-nutzend nur von einer Sonnenterrasse zur nächsten wälzen, sind für Gewerbe und Logistik in diesem Stadtentwurf kein Platz mehr vorgesehen. Er zeichnete ein distopisches Bild, in dem Läden und Kaufhäuser in den Innenstädten reihenweise Pleite gehen und der örtliche Verkehr vor lauter Amazon-Lieferwagen, die in der zweiten Reihe halten, kollabiert. Gerade eine von Immigranten geprägte Gesellschaft braucht aber den städtischen Arbeitsmarkt als integrierende Kraft.

Städte sind im internationalen Standortwettbewerb nur dann erfolgreich, wenn sie ihre „Creative Class“ förderten, lautet hingegen die These des amerikanischen Ökonomen Richard Florida. Nach Meinung von Økland sind Jobs für die urbane Attraktivität wichtiger als Szene-Cafés. Nur in die hübschen Seiten der Urbanität, in Kultur und Lifestyle zu investieren statt in Start-ups und eine moderne Business-Infrastruktur, hält er für falsch. „Vergessen Sie die Theater, die Architektur, die schönen Parks, Cafés und Kinderspielplätze!“ schreibt er. „Kreative schaffen Jobs, aber nicht dadurch, dass ein schickes Café eröffnet wird. Viele Jobs in der Kultur gehören zu den am schlechtesten bezahlten“. Sein Rat: „Die Gemeinde soll nicht selber Arbeitsplätze schaffen, sondern in ihre Infrastruktur investieren, die es anderen ermöglicht, Arbeitsplätze zu schaffen“.

Die "Cykel-Slangen", entworfen von Dissing + Weitling, erschließt Kopenhagens neue Stadtviertel. (Bild: Ole Malling)

Nordeuropa ist traditionell für seine hochentwickelte Innenraum-Kultur bekannt. Die langen, dunklen Winter wollen in Interieurs verbracht werden, die liebevoll gestaltet, gemütlich und gut beleuchtet sind und die eine Atmosphäre haben, die man nur als „hygge“ bezeichnen kann. In den letzten Jahren sind in allen nordischen Metropolen jedoch auch Außenräume gestaltet worden, die – wie die Seebadanlage Sørenga sjøbad im Oslo Fjord (Entwurf: LPO Arkitekter) –  sommerliche Aktivitäten mitten in das Zentrum der Kapitalen bringen und dort zelebrieren. Neue Kultur-Großprojekte wie die Opernhäuser in den Häfen von Oslo und Kopenhagen markieren die Öffnung der Städte hin zum Wasser.

Von „den nordischen städtischen Räumen“ zu sprechen, erwies sich auf der Berliner Diskussion schon bald als Krücke: Zu unterschiedlich sind die Ausgangslagen bei genauerem Hinsehen zumindest zwischen den drei skandinavischen Ländern im Westen und Finnland im Osten: Während Norwegen beispielsweise ganz auf eine freie, markt-getriebene Immobilienentwicklung setzt, hat Helsinki eine weltweit einmalig große Einflussmöglichkeit auf die Stadtentwicklung und nutzt diese auch munter: Die finnische Hauptstadt ist im Besitz fast aller Grundstücke im Stadtgebiet und vergibt lediglich Erbbaurechte zur Bebauung. Besonders gut darauf bedacht, eine hochwertige städtische Infrastruktur vorzuhalten ist sie deshalb im eigenen ökonomischen Interesse: Der Bau der milliarden-teuren neuen U-Bahnlinie, die Helsinki seit Ende letzten Jahres mit der Schwesterstadt Espoo verbindet, ist ein gutes Beispiel dafür: Für die „Länsi-Metro“ sind acht neue Bahnhöfe gebaut worden, die – wie das Beispiel des Haltepunkts „Alvar Aalto Universität“, entworfen von ALA Architects beweist – von höchster architektonischer Qualität sind. Ihre Gestaltung ist keineswegs „hygge“: Sie zelebrieren durch ihre unverkleideten Tunnelwände im Gegenteil die Schroffheit der finnischen Natur und Gesteinsformationen.

Ausstellung
„Nordic Urban Spaces“, bis 28. September
Mo–Fr 10–19 Uhr, Sa+So 11–16 Uhr
Ort: Nordische Botschaften, Rauchstraße 1, Berlin
Eintritt frei