Von der Moderne zum Morgen

Ulf Meyer
1. November 2017
Tuberkulose-Sanatorium, Alvar Aalto (Bild via wikimedia)

Architektur spielt in Finnland kulturell eine große Rolle. Mit Alvar Aalto und Eliel Saarinen hat das dünn besiedelte Land im 20. Jahrhundert zwei prominente Baumeister hervorgebracht. Das große internationale Interesse verdankt die finnische Baukultur nicht nur dem künstlerischen Talent ihrer Architekten, sondern auch einer aktiven staatlichen Architekturpolitik und dem Bedürfnis nach Eigenständigkeit. Eine archaische Kulturtechnik wie die Architektur scheint einem archaischen Land adäquat zu sein. Nach Meinung des Architekturtheoretikers Kenneth Frampton gehört Finnland neben Frankreich, Spanien und Japan zu den Ländern an der Weltspitze der Architektur. Das Jahrhundert der finnischen Architektur begann mit einem Landespavillon auf einer Weltausstellung: In Paris hatte Saarinen im Jahr 1900 sein Heimatland noch im national-romantischen Stil präsentiert. Diese «patriotische» Architektur wurde als Gegengift zum «imperialistischen Klassizismus» gesehen.

Der Beginn der finnischen Protomoderne wurzelt im Berliner Neoklassizismus um Carl Ludwig Engel, dessen Gebäude die Innenstadt Helsinkis bis heute dominieren. Am Anfang des Jahrhunderts bekam die finnische Autonomiebewegung kulturellen Aufwind. Finnland war bestrebt, sich von den beiden benachbarten Großmächten Russland und Schweden zu emanzipieren und seinen Ausgangspunkt in der volkstümlichen Tradition zu finden. Architektur stand im Zentrum des Strebens nach nationaler Unabhängigkeit und wurde zur entscheidenden Disziplin bei der Staatswerdung 1917. Am 6. Dezember des Jahres erklärte Finnland seine Unabhängigkeit (von Russland). In dem anbrechenden Bürgerkrieg kämpfte ein junger Mann namens Alvar Aalto auf Seiten der Bürgerlichen, die sich gegen die Sozialisten durchsetzte. Nach dem Bürgerkrieg war Tuberkulose die häufigste Todesursache in der jungen Republik und Aaltos erster großer Bau war deshalb nicht zufällig ein TBC-Sanatorium in Paimio. Mit 35 Jahren entwarf diesen Meilenstein der klassischen Moderne in Finnland. Der schmale Riegel setzte die Prinzipien der Moderne überzeugend um, mit seiner totalen Gestaltung auch aller Möbel und Interieurs geriet es zum Gesamtkunstwerk, das der finnischen Modernebewegung zum Vorbild gereichte.

Hauptbahnhof Helsinki, Eliel Saarinen (Bild via wikimedia)

Visionen für Groß-Helsinki
Für das nach dem Ersten Weltkrieg zur Großstadt reifende Helsinki entwickelte Saarinen Visionen einer dichten Metropole. Sein Jugendstil-Hauptbahnhof lässt erahnen, welch großstädtisches Bild er im Sinn hatte. Die Verwirklichung eines neuen, einheitlichen Stadtteils auf künstlich gewonnenem Land in der Bucht und des Generalplans für Groß-Helsinki wurden jedoch durch die Depression verhindert. Der bleischwere Reichstag zeigt, wie sehr der jungen Nation an einem baulichen Anker gelegen war. Saarinen gewann 1922 den zweiten Preis beim Wettbewerb für das Redaktionshochhaus der Chicago Tribune und wanderte in der Folge in die USA aus. Damit verlor Finnland seinen damals wichtigsten Architekten.

In den dreißiger Jahren setzte sich mit der fortschreitenden Industrialisierung die Moderne flächendeckend in Finnland durch. Der Staat definierte seine Identität durch moderne Architektur, in dem die finnische Baukunst im internationalen Diskurs einen eigenen Standpunkt fand. Alvar Aalto vermochte die Prinzipien der klassischen Moderne den finnischen Gegebenheiten von Topografie, Klima und Natur anzupassen und daraus einen eigenen, fantasievollen Stil zu entwickeln. Seine Bauten mit hoher Detailqualität, die das nordische Licht raffiniert einfangen, sind sinnlich und materialgerecht. Aaltos Bibliothek im karelischen Viipuri von 1935 war ein früher Höhepunkt. In den zwanziger Jahren hatten der soziale Wohnungsbau und öffentliche Bauten Vorrang, um die Modernität der jungen Republik zu unterstreichen. Erst in den dreißiger Jahren entwickelte Aalto seine persönliche, organische Architektur und brachte damit regionalistische Ideen in die Moderne. Aaltos «organische Moderne» wurde zum weltweiten Erfolg und sein Streben nach dem Gesamtkunstwerk, das Architektur, Städtebau, Design und bildende Kunst umfasst, trug Früchte. Finnland ist spätestens seit Alvar Aalto ein Architekturland.

Bibliothek von Viipuri, Alvar Aalto (Bild von 2014)

Modul oder Fertigteil
Obwohl Aalto nie eine eigene Schule schuf, sind seine Einflüsse bis heute spürbar. Das Fehlen einer starken klassizistischen Tradition begünstigte den Durchbruch der Moderne. Die Bauten der wegen des Zweiten Weltkriegs aufgeschobenen Olympischen Spiele in Helsinki in den fünfziger Jahren zeigten, dass Finnland gewillt war, an die Tradition der Moderne anzuknüpfen. Angesichts knapper Ressourcen wurden Typenhäuser für den staatlichen Wohnungsbau entwickelt. Aber die anspruchsvollen Modulsysteme konnten sich nicht gegen den Fertigteilbau durchsetzen. Schon seit 1942 waren im «Büro für Wiederaufbau» kleine, hölzerne Standardhäuser entwickelt worden. Die Industrialisierung des Bauens sollte die sozialen Probleme der Urbanisierung mildern; doch die Fertigteilbauweise beschleunigte zugleich die Suburbanisierung. Die formell reduzierten städtischen Großprojekte der 60er-Jahre begruben die lebendige, prägende Holzbautradition. Nur einzelne Projekte, wie die berühmte, in einen Granitberg geschlagene Felsenkirche in Helsinki, erneuerten die finnische Architektur. Die Postmoderne hat sich in Finnland bis auf regionale Schulen kaum durchgesetzt.

Die Zentralbibliothek in Helsinki von ALA Architects soll 2018 eröffnet werden (Bild: VIZarch / ALA Architects)

Offene Wettbewerbe als Chance
​Die finnische Gegenwartsarchitektur wird von einigen jungen Architekturbüros geprägt, die für eine herausragende Generation stehen. Die internationale Ausstellung «Suomi Seven. Junge Architekten aus Finnland» stellte eine neue Generation von finnischen Architekten vor, die in den 1970er- und 1980er-Jahren geboren wurden und bereits ein international beachtetes Portfolio haben: Dank der finnischen Tradition der offenen Architekturwettbewerbe hatten sie die Möglichkeit, an großen Projekten zu arbeiten. ALA Architects mögen die erfolgreichsten der Jungen sein – jedenfalls durften sie das «Geburtstagsgeschenk» entwerfen, das sich die Nation zum hundertsten Geburtstag gönnt: Eine große, öffentliche Bibliothek – direkt im Herzen der Hauptstadt und vis-a-vis des Nationalen Parlaments.