Architecture Matters – deutsche Innenstädte in der Krise

Ulf Meyer
2. April 2021
Herzog & de Meuron planen zwei Hochhäuser neben der Paketposthalle in München. Der Prozess ist mühsam, denn der Vorschlag steht im Widerspruch zur Vorgabe, dass solche Bauten in der Stadt maximal 100 Meter hoch aufragen dürfen. (Visualisierung © Herzog & de Meuron)
Architecture Matters ist eine internationale Konferenz, die seit einigen Jahren regelmäßig in München stattfindet. Veranstalter ist das Kommunikationsbüro plan A. Die Sprecher*innen stammen stets aus den Bereichen Architektur, Immobilienentwicklung, Politik und Kultur. Über mehrere Tage finden Veranstaltungen wie Vorträge, Diskussionsrunden, Workshops oder sogenannte Speed-Datings statt.
 
Dieses Jahr lief die Konferenz vom 24. bis 26. März. Aufgrund der Corona-Pandemie ging sie erstmals als Online-Event über die Bühne. 

Der Hochhausbau ist in den meisten europäischen Städten ein fortwährender Eiertanz, schon seit er vor rund 100 Jahren begann. Ihn frei voranschreiten zu lassen, ist vielen zu liberal, ihn jedoch gänzlich zu verbieten, würde als provinziell gelten. Also werden mühsam und in endlosen Kontroversen »Hochhausstandorte« bestimmt, deren Grundstücksbesitzer sich über den enormen Wertzuwachs freuen und Häuser planen lassen, die dann durch Kürzung in der Höhe von Politik und Öffentlichkeit regelmäßig verschlimmbessert werden. Heraus kommen oft mediokre Stummeltürme, die allen Bemühungen zum Trotz fast wahllos über das Stadtgebiet verteilt sind. 

Mehr Hochhäuser in München? Christoph Ingenhoven und Elisabeth Merk diskutieren

Auch in München wird aktuell gestritten, wo künftig weitere Hochhäuser entstehen dürfen: 03 Architekten haben für die Stadt einen Hochhausplan entwickelt, der auch laufenden Projekten den Anschein einer Planung geben soll. An der Paketposthalle von 1969 gestalten Herzog & de Meuron in einem zähen Prozess zwei Türme, während die Erben des Knorr-Bremse-Konzerns auf dem Firmenareal am U-Bahnhof Oberwiesenfeld ein neues Stadtquartier mit einem Hochhaus am Nordrand des Olympiaparks planen. Im internationalen Vergleich lachhafte 100 Meter Höhe gelten in München als magische Obergrenze – obwohl niedrige Hochhäuser mitunter architektonisch durchaus schlimmer sind als hohe. 

Nach einem Entwurf des deutschen Büros Ingenhoven Architects will die Firma OPES Immobilien drei zehn- bis zwölfgeschossige Wohntürme bauen. Für Christoph Ingenhoven, der im Rahmen der heurigen Ausgabe von Architecture Matters sprach, gebietet die »Ökonomie des Architekturbüros«: Wenn der Architekt über Gebühr viel Zeit bei Diskussionen mit Hochhausgegnern verliert, bleibt weniger für den Entwurf. Ingenhovens Aufruf gegen Verzagtheit im deutschen Hochhausbau schloss sich Münchens Stadtbaurätin Elisabeth Merk an. Die »Rechtfertigungsgesellschaft lähmt«, resümierte sie. Kritik würde immer gehört, »aber Befürworter artikulieren sich nicht«. Für Merk wachsen die neuen Münchner Hochhäuser organisch aus ihren Quartieren und sind keine autistischen Solitäre mehr wie in der klassischen Moderne. Ingenhovens Verdikt, dass es in München kein Neubauprojekt gäbe, das schön sei, konnte sie nicht im Raum stehen lassen und spielte den Ball an die Architektenschaft zurück. Die Entwerfer*innen bezögen einfach nur Positionen, die nie falsch seien. Merk sind Nah- und Fernwirkung, Farbe und Materialität von Hochhäusern wichtiger als ihre Höhe. Ihr Traum sei der Bau von genossenschaftlichen Öko-Wohnhochhäusern, sagte sie.  

Visualisierung © Herzog & de Meuron

Es muss und kann nicht jedes Hochhaus gleich gut gelingen. Aber während in New York Hochhäuser kontextuell sind und mittelmäßige Türme nicht weiter auffallen, gibt es in einer deutschen Großstadt meist nur zehn bis zwanzig Hochhäuser, die enorme Aufmerksamkeit bekommen. Der Investor Ralf Büschl, der auf dem Paketposthallen-Areal baut, stieß ins gleiche Horn: Er wünsche sich noch viele neue Hochhäuser für München. Die Stadt sei zu groß, um en détail zu planen, und gute Prozesse führten nicht zwangsläufig zu schönen Häusern, befand Merk daraufhin selbstkritisch. Die Zeit der Masterpläne sei vorbei, verkündete sie und nahm damit willentlich oder unwillentlich Bezug auf Reinier de Graafs neuen Roman »The Masterplan. A Novel«, der auf der Konferenz Deutschlandpremiere feierte. Das Buch ist der erste Roman des OMA-Partners und geht geographisch und biografisch weit über die Themen der Konferenz hinaus.

Das Kaufhaus am Hermannplatz in Berlin-Neukölln soll wieder aussehen wie vor dem Zweiten Weltkrieg. (Visualisierung © SIGNA, David Chipperfield Architects)
Der Niedergang der Innenstädte

Das zweite Hauptthema von Architecture Matters stand im krassen Gegensatz zum Auftakt: Den sterbenden deutschen Innenstädten geben Online-Shopping, bankrotte Kaufhäuser, Home-Office und die Corona-Krise derzeit den Rest. Die wichtigsten Bautypen dort sind in die Krise geraten – die Büro- und Kaufhäuser sowie die Einzelhandelsgeschäfte. Grund genug für das Team hinter Architecture Matters, die Zukunft der Fußgängerzonen zum Thema zu machen. Die Journalistin Katja Eichinger aus Köln gab ironisch zu bedenken, dass Shopping (neben Fußball und im Stau stehen) die letzte kollektive Tätigkeit der deutschen Gesellschaft sei. Für Eva Herr, die Leiterin des Stadtplanungsamts Köln, ist zwar die schnöde »Anlage-Architektur« der Einkaufsstraßen und die Dominanz der immer gleichen Marken des Teufels, aber in »Standortgemeinschaften« für B-Lagen, gemeinsamen Aktionen von Handelsverband und (Möbel-)Messe etwa, sieht sie Potenzial. Über eine »Innenstadt ohne Einzelhandel« denkt sie, auch angetrieben durch die aktuelle Krise, bereits nach.

Aufgrund des weiter andauernden Immobilien-Booms in Deutschland ist architektonische Qualität jedoch nicht erforderlich für den Erfolg – dieses Dilemma sieht man vielen innerstädtischen Neubauten an. Sie werden bald umgebaut werden müssen. Ulrich Höller von der Firma ABG Real Estate, die am Berliner Alexanderplatz mit Jürgen Mayer H. baut, bedauerte, dass der Umbau von Büro- zu Wohnhäusern in Deutschland juristisch noch schwierig bis unmöglich sei. Zwar seien Ausbildung und Interessenvertretung der Immobilienwirtschaft in den letzten Jahren besser geworden, der Dialog mit Politik und Gesellschaft bleibe jedoch ein Schwachpunkt der Developer. Die Verwaltung erscheint ihm zudem »personell ausgedünnt«, die Bürgerbeteiligung in einer parlamentarischen Demokratie »grenzwertig« und die Politik im Konflikt mit ihrem eigenen Apparat. Vom »Un-Ort« zum »In-Ort« will Frau Herr deshalb die (Kölner) Innenstadt machen – durch Biertische auf Parkbuchten, breite Pop-up-Radwege überall und urbanistische Ad-hoc-Aktionen, die zu ihrer Imperfektion stehen. Für Immobilieninvestoren ist diese Vorstellung vermutlich ein Alptraum.

The Masterplan. A Novel

The Masterplan. A Novel
Reinier de Graaf

328 Seiten
Paperback
ISBN 9789077966914
Archis
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