Der Chronist des 20. Jahrhunderts

Ulf Meyer
30. September 2021
Kraftwerk der Volkswagen AG, Wolfsburg, 1971 (Foto: Heinrich Heidersberger)
»Kraftwerk der Volkswagen AG« – eine Ikone der deutschen Architekturfotografie

Wenn man so will, schloss sich 2009 ein Kreis, als die Düsseldorfer Band Kraftwerk ein Konzert im Kraftwerk des Volkswagenkonzerns in Wolfsburg gab. Mit seinen mehr als hundert Meter hohen Schornsteinen ist das Heizwerk seit fünfzig Jahren das architektonische Wahrzeichen der Neustadt. Die Anlage wurde 1939 von den Architekten Rudolf Mewes, Karl Kohlbecker, Fritz Schupp und Martin Kremmer entworfen und in den 1960er-Jahren groß erweitert. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurden drei der markanten Schornsteine errichtet, der nördlichste Turm folgte gar erst 1966. Der südliche Teil des Industriedenkmals ist heute eine Veranstaltungshalle.

Fünfzig Jahre ist es inzwischen auch her, dass der großartige Architekturfotograf Heinrich Heidersberger (1906–2006) die Anlage dokumentierte. Seine Aufnahme »Kraftwerk der Volkswagen AG« wurde zu einer Ikone der deutschen Architekturfotografie. Ein kühler Herbstmorgen, klares Wetter, Ostwind – Heidersberger hatte Zeitpunkt und Wetterlage geschickt gewählt. Den Fluchtpunkt verlegte er in die linke Bildhälfte, das gegenüberliegende Ufer des Mittellandkanals liegt so parallel zur Horizontalen und die Untersicht der Brücke zieht den Betrachter geradezu in die menschenleere Szenerie. Während die gewählten Farbfilter für einen tiefdunklen Himmel und schneeweißen Dampf sorgen, lässt die lange Belichtungszeit das Wasser wie gefroren erscheinen. In dieser unwirklichen Aufnahme begegnen sich Utopie und Dystopie. Während die Fotografie zur Zeit ihrer Entstehung für Aufbruch, Wirtschaftswunder und Stolz auf das Geleistete stand, wurde sie später auch vor dem Hintergrund der Ölkrise, der aufkommenden Umweltschutzbewegung und der nunmehr klar sichtbaren Grenzen des Wachstums gelesen.

Jahrhunderthalle von Friedrich Wilhelm Kraemer und Ernst Sieverts, Hoechst, 1963 (Foto: Heinrich Heidersberger)

Weil sich die Entstehung des Bildes zum fünfzigsten Mal jährt, finden in Wolfsburg gerade diverse Veranstaltungen statt, die das Foto und überhaupt das ganze Œu­v­re Heidersbergers in den Fokus rücken – mehr dazu gleich. 

Heidersberger begann 1928 zu fotografieren. In der Nachkriegszeit eröffnete er ein Atelier in Braunschweig. Seit 1961 lebte er auf Schloss Wolfsburg. Als Heidersberger das Kraftwerk für eine Ausstellung im Haus Wolfsburg anlässlich der Olympischen Spiele von München 1972 fotografierte, schuf er ein Bild, das seinen Erfolg krönte und seinen Status als einer der besten Architekturfotografen seiner Zeit zementierte. 

VW-Bad, Wolfsburg, 1961 (Foto: Heinrich Heidersberger)
Der Fotograf der Braunschweiger Schule

Heidersberger zählte ohne Zweifel zu den wichtigsten Fotografen der Moderne und war eine zentrale Figur der abstrakten Fotografie und der Neuen Sachlichkeit der 1950er-Jahre. Er war der Chronist der sogenannten Braunschweiger Schule. Diese Architekturlehre prägte die norddeutsche Nachkriegsarchitektur nachhaltig. Dem besonderen Milieu an der TU Braunschweig gab Ulrich Conrads (1923–2013), damals Chefredaktor der traditionsreichen Fachzeitschrift Bauwelt, 1961 seinen Namen. Für Conrads waren die Bauten jener Zeit bescheiden und von besonderer Qualität. 

Entscheidend zur Braunschweiger Architekturlehre trugen Friedrich Wilhelm Kraemer, Dieter Oesterlen und Walter Henn bei. Kraemer gilt als Begründer der Schule und setzte sich für die Berufung von Oesterlen an die TU im Jahr 1952 ein. Nur ein Jahr später stieß Walter Henn aus Dresden hinzu. Ihre stärkste Wirkung entfaltete die Schule in den 1950er- und 1960er-Jahren, also während der Hochphase des deutschen Wirtschaftswunders. Erst 1968 löste die aufkommende Postmoderne die Spätphase der Braunschweiger Schule allmählich ab. Doch ihr Einfluss wirkt bis heute fort: Erfolgreiche deutsche Architekturbüros unserer Zeit wie gmp, KSP Engel und Gerber haben ihre Ursprünge in der Braunschweiger Schule, deren Haus- und Hoffotograf Heidersberger über die Jahre wurde.

Die »gesamtheitliche Architektur« unter Berücksichtigung von Funktion, Konstruktion und Form bannte er auf Film. Stilistische oder regionale Fragen spielten keine Rolle in dieser Architekturauffassung. Kraemer vertrat die Funktionslehre und Henn die Konstruktion, während das Fach Entwurf und Gestaltung von Oesterlen unterrichtet wurde. Statt »subjektiver Willkür« sollten »systematische, übergeordnete Ordnungsphänomene« die Architektur prägen, die wissenschaftlicher und objektivierbar sein sollte und fortan auf Raster-Proportionen aufbaute. Eine autogerechte »städtebauliche Auflockerung« mit großen Solitärbauten definierte Stadtraum als »Lagebeziehung von Körpern«. Ihre reduzierte, sachliche Architektur ließ allerdings viele Entwürfe der Braunschweiger Schule als Fremdkörper in der Stadtlandschaft erscheinen. Heidersberger gelang es dennoch immer wieder, die Bauten vorteilhaft ins Bild zu setzen. 

Hauptbahnhof Braunschweig von Erwin Dürkop, 1961 (Foto: Heinrich Heidersberger)
Deutsche Geschichte in Bildern

In seinen hundert Lebensjahren erlebte Heidersberger die klassische Moderne, den Nationalsozialismus und den Aufbau der Bundesrepublik sowie die Wiedervereinigung. Sein Werk gibt Zeugnis über die sich wandelnden Architekturströmungen im 20. Jahrhundert. Heidersbergers große Lebenserfahrung machte ihn über die Kunst hinaus zu einem politischen und geschichtsinteressierten Menschen. Mit besonderer Energie widmete er sich der Aufarbeitung des Schicksals der Zwangsarbeiter, die während der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft in Wolfsburg bis in den Tod schuften mussten.

Im Jahr 1906 in Ingolstadt geboren, wuchs er in Linz auf und studierte in Graz Architektur. Heidersbergers Weg zur Fotografie führte über die bildende Kunst. Ende der 1920er-Jahre zog er nach Paris, um den Surrealismus des Malers Giorgio de Chirico (1888–1978) genauer kennenzulernen. Er schrieb sich schließlich an der Académie Moderne ein, um Fotografie zu studieren. Die umfassende Beschäftigung mit dem Surrealismus inspirierte sein Spiel mit Bilddetails und seine geschickte Wahl der Perspektive. 

»Traum und Wirklichkeit – Selbstportrait«, 1955 (Foto: Heinrich Heidersberger)
Ein herausragender Architekturfotograf – und noch weit mehr

Als Fotograf beschränkte er sich nicht auf die Baukunst. Seine bahnbrechende Serie »Kleid aus Licht«, Aktaufnahmen für das Magazin Stern, löste einen Skandal aus: Im Jahr 1949 entwickelte er eine »Lichtkanone«, um Frauen, darunter auch seine Gattin, nackt, doch nicht entblößt zu zeigen. 

Heidersberger beherrschte auch die Reisefotografie, wie seine Aufnahmen aus New York, Kuba oder von einer Kreuzfahrt mit der MS Atlantic schon 1954 bewiesen. Für Reportagen des Stern fotografierte er journalistisch und in Farbe. Auch für Experimente war Heidersberger stets offen: Er entwickelte zum Beispiel grafisch reizvolle fotografische »Rhythmogramme«, die mit einer Pendelmaschine erzeugt wurden.

Tankstelle »Blauer See« von Dieter Oesterlen, Hannover, 1953 (Foto: Heinrich Heidersberger)
Ausstellungen, Debatten, Backwaren – ganz Wolfsburg feiert Heinrich Heidersberger

Das Jubiläum der Entstehung des eingangs erwähnten Fotos der VW-Werke ist ein guter Grund, das Schaffen des Fotografen neu zu entdecken, der mit seinem eleganten und kontrastreichen Stil eine eigene Bildsprache entwickelte, wobei die sorgfältig arrangierten und ausdrucksstarken Schwarz-Weiß-Fotografien vielleicht die beeindruckendsten Arbeiten sind. 

Mit einer Vielzahl von Veranstaltungen von September bis November dieses Jahres wird das legendäre Foto aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet. Das Kunstmuseum Wolfsburg zeigt eine Ausstellung zur »Bildikone Kraftwerk der Volkswagen AG« (noch bis 14. November) und das Institut Heidersberger bietet mit Führungen durch das Archiv des Fotografen auf Schloss Wolfsburg einen Blick hinter die Kulissen. Jenes ist in Heidersbergers ehemaligem Atelier eingerichtet und umfasst 60000 Negative sowie 20000 Positive. Im öffentlichen Raum und der Städtischen Galerie werden Arbeiten des Fotografen plakatiert, und sogar eine örtliche Bäckereikette beteiligt sich augenzwinkernd: In ihren Filialen verkauft sie »Kraftwerk-Schnitten«. Eine Podiumsdiskussion am 4. November soll dann den Höhepunkt der großen Rückschau bilden. 

Kulturhaus von Alvar Aalto, Wolfsburg, 1962 (Foto: Heinrich Heidersberger)

Aus heutiger Sicht war Heinrich Heidersberger ein führender Vertreter der Generativen Fotografie, bei der mit verschiedenen technischen Hilfsmitteln außerhalb der Kamera Einfluss auf das Bild genommen wird. Nicht nur war er ein herausragender Architekturfotograf, sondern er erweiterte die Grenzen des Mediums.

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