Die „Schwachköpfe“-Debatte

Manuel Pestalozzi
27. Februar 2018
Bei der Kritik an der aktuellen Architektur steht in München oft die Messestadt auf dem einstigen Flughafengelände Riem in Fokus. Bild: Bayerische Vermessungsverwaltung/Wikimedia

Deutlich wurde Stadtrat Manuel Pretzl, Fraktionsvorsitzender der CSU-Stadtratsfraktion von München: „München braucht mehr ansprechende Architektur. Viereckige Kästen mit Flachdächern und glatten Fassenden dominieren die uniformen Neubaugebiete“, beklagt er sich auf der Website der Stadtratsfraktion. Er bedauert, dass keine neue Satteldächer das Siedlungsgebiet der Isarstadt zieren und es in Neubaugebieten an „lauschigen Innenhöfen“ mangelt. Den Grund dafür glaubt er in einer „Clique von Architekten“ zu erkennen, die „innovative Entwürfe, die das Münchner Lebensgefühl widerspiegeln, regelmäßig ausbremsen“. Uniformes Rasterdenken und eine bestimmte architektonische Schule diktierten die Entscheidungsfindung, so Pretzl. Die Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger seien nachrangig.
 
Redakteur Gerhard Matzig hat diese Kritik in der Süddeutschen Zeitung aufgenommen – fast dankbar, könnte man sagen. „Architekten, alles Schwachköpfe! Vergessen immer die Treppen im Haus!“ – dieses dem französischen Romancier Gustave Flaubert zugeschriebene Zitat bringt er in die Debatte ein. Oder sollte man sagen: die Beantwortung der Schuldfrage? Jedenfalls weiß er zu berichten, dass sich verschiedene Mitglieder der Zunft (aber offenbar keine Berufsverbände) ob des pretzl’schen Tadels betupft fühlten. Der Vorwurf des Populismus machte in der Metropole Bayerns die Runde. Dabei müssten Architektinnen und Architekten für die Laien-Kritik eigentlich dankbar sein. Sie ist wohl unfundiert und oberflächlich, aber Laien kümmern sich nun mal nicht besonders um Fundamente und empfinden Architektur über Oberflächen.
 
Doch zusammen mit Gerhard Matzig stellt sich auch dieser Redakteur die Frage, ob die Kritik bei den Architektinnen und Architekten wirklich an der richtigen Adresse ist. Die meisten Berufsleute müssen sich ja an enge Vorgaben halten. Gerade im Wohnungsbau zeige sich, dass die Architekten in den Diskussionen um Grundrisse und Fassaden, um Materialien und Konstruktionen, um Städtebau und Freiflächen selten das letzte Wort haben, meint Matzig. Den eigentlichen Entscheidern, darunter gerne Betriebswirte und Juristen sowie Immobilienkaufleute, dienten Architekten am Ende zumeist nur als Verhübscher und Fassadisten - die daran natürlich auch oft genug scheiterten.
 
Sicher ist das „Gestalten mit dem Rechenschieber“ seitens der ohne Herzblut agierenden Bauherrschaften (mittlerweile oft „Besteller“ genannt) einer der Gründe, weshalb die Architektur der Gegenwart so ausschaut, wie sie eben ausschaut. Andere, vielleicht bisher zu wenig diskutierte Gründe sind die hohen Lohnkosten des Baupersonals und die stets wachsende Regeldichte seitens der Gemeinschaft, die durch Ämter und die politischen Behörden vertreten werden. Bei der heute so hochgelobten Gründerzeitarchitektur konnte man auf meist schlecht bezahlte Fachkräfte, beispielsweise Steinmetze, zugreifen, die sich gleich noch um Details kümmerten. Heute müssen „billige“ Materialien hohe Saläre kompensieren – man kann nur hoffen, dass mit den Segnungen der Digitalisierung diesbezüglich Gegensteuer gegeben werden kann. Die Regeldichte schließlich macht Angst vor gewagten Würfen in formaler und konstruktiver Hinsicht. Sie lenkt die (bekanntlich nicht unbeschränkt verfügbare) Aufmerksamkeit von gestalterischen Anliegen hin zu technisch-administrativen. Man verstehe diesen Redakteur nicht falsch: Das hat alles seine guten Gründe und seine Richtigkeit. So gesehen ist allerdings die beklagte „seelenlose“ Architektur eine Zeugin ihrer Zeit, was man nicht einem Berufsstand in die Schuhe schieben kann.