Ist der Blick ins Leere leer?

Susanna Koeberle
28. Mai 2021
Deutschland präsentiert sich mit einem leeren Pavillon, in dem einzig die QR-Codes und einzelne Punkte am Boden auf Inhalte deuten. (Foto: Flavia Rossi)

Es hat mittlerweile die Runde gemacht: Der deutsche Pavillon an der 17. Architekturbiennale bleibt leer. Menschen gehen durch den hellen Bau und richten ihre Blicke auf ihr Smartphone. Really? Was soll das? Ich lebe im Jahr 2021 und habe nichts gegen digitale Geräte; ich habe auch sonst schon eine beachtliche Bildschirmzeit. Aber muss ich dafür wirklich nach Venedig? Zukunft sei keine Zeit, sie sei als erzählerisches Werkzeug in der Gegenwart verankert, heißt es in einem Textbeitrag des Kuratorenteams um Arno Brandlhuber und Olaf Grawert. Zeit ist relativ? Ok, lassen Sie mich also einen Blick zurück werfen, weit zurück, ins Mittelalter. Meister Eckhart (1260–1328) erscheint zwar nirgends als Referenz, doch der Titel »2038 – Die Neue Gelassenheit« lässt diesen Umweg durchaus zu. Um genau zu sein, handelt es sich sogar um eine direkte Linie, nämlich um das Wort Gelassenheit selber, das dem Publikum (ob real anwesend oder virtuell eingeloggt) als Versprechen der Zukunft geliefert wird. Wir werden 2038 gelassen sein, denn »2038 erzählt die Geschichte einer Welt, in der gerade noch mal alles gut gegangen ist. Wir sind in der Ära der Neuen Gelassenheit angekommen«, lesen wir im Pressetext. Der Dominikanerbruder Meister Eckhart war ein Querdenker – er wurde damals der Häresie (Abweichung von der Rechtgläubigkeit) bezichtigt – und er kann durchaus als Erfinder der Gelassenheit (gelâzenheit) gelten. Was meint aber Eckhart mit diesem Begriff? Jetzt wird es kurz religiös, sorry. Um Gott zu finden, muss der Mensch sich von vielen Dingen befreien, in erster Linie vom eigenen Ego. An seine Stelle tritt Leere, eine innere Abgeschiedenheit: Erst wenn der Mensch alles hinter sich gelassen hat, kann er gelassen sein. Und Eckhart meint nicht, dass man sich dafür in eine Einsiedelei zurückziehen muss. Wer gelassen ist, kann in der Welt und unter Leuten leben (nachzulesen im »Traktat 2«). Er plädiert für ein Leben »ohne Warum«, erst dann könne Gott durch den Menschen wirken. Ersetzt man diese religiöse Terminologie (ja, das darf man) durch zeitgemäßere Begriffe und Ideen, können sich spannende Bezüge in die Jetztzeit – also 2021 oder 2038, eh relativ – ergeben. Würden wir mehr von unserem persönlichen Profitdenken ablassen, könnten wir im Jahr 2038 tatsächlich eine neue Gelassenheit leben. 

Genau in diese Richtung weisen auch die Filme, welche man entweder virtuell auf der Website 2038.xyz oder eben vor Ort mittels Scannen der QR-Codes findet. Ganze vier Stunden kann man damit verbringen, Filme anzuschauen und auf den Bildschirm zu starren. Die Inputs der Expert*innen sind am Ende nicht so weit weg von der Gegenwart, 2038 ist bald. »In den zwanziger Jahren war es noch üblich, direkte Demokratie und repräsentative Demokratie als zwei konkurrierende Formen der Beteiligung zu betrachten. In Taiwan hatten wir bereits mit dem Prototyp eines neuen politischen Systems begonnen, das diese Binarität infrage stellte und erforschte, wie direkte und repräsentative Demokratie symbiotisch funktionieren könnten, als miteinander verwobene, sich ergänzende Systeme«, sagt etwa Audrey Tang, Programmiererin aus Taiwan.

So sieht das etwa am Bildschirm aus: Omoju Miller & Audrey Tang, 2038 (Foto: 2038 – The New Serenity, deutscher Pavillon)

Im Einstiegsfilm »Interrail 2038« etwa treffen sich Billie und Vincent, 2021 und 2020 geboren, in Venedig. Begleitet werden sie von ihren »AIs«, zwei fliegenden, gefiederten Wesen, die eine Art digitale Alter Egos der beiden sind. Billie und Vincent erzählen von ihren Leben (Billies Vater war Architekt und glaubte an eine bessere Welt), spazieren im Regen durch die leeren Giardini und besuchen auch den deutschen Pavillon (der ist natürlich auch leer). »Private ownership of land, when was that?«, fragt Billie. Wir merken: Es geht um Utopien. Irgendwie hat das etwas Berührendes, auch wenn die Inhalte dieses Films jetzt nicht wirklich wow sind. Neben der Tatsache, dass dieses Konzept perfekt in die von der Corona-Pandemie heimgesuchten Welt passt, ist das Ausweichen auf digitale Formate ein Versuch, den Pavillon für alle, also auch für die jüngere Generation, zugänglich zu machen. »Hey! It’s about you!«, heißt es in einem der Filme. Wer ist mit »you« gemeint? Mit diesen virtuellen Räumen, mit dem Navigieren mittels Tasten hat die ältere Generation (also Nicht-Digital-Natives, dazu gehöre ich auch) sicherlich ihre Mühe. Aber muss das deswegen per se schlecht sein? Die Frage ist natürlich schon, auf welche Weise man eine Geschichte erzählen will, denn schließlich geht es ja bei solchen Veranstaltungen auch um Storytelling. Mein iPhone war übrigens tatsächlich zu alt, um die QR-Codes zu scannen. Das Projektteam lieh mir dann freundlicherweise ein iPad aus. Zu Hause besuchte ich den Pavillon beziehungsweise den Cloud-Pavillon dann nochmals, diesmal mit einem Avatar. Es befanden sich sieben Leute im virtuellen Pavillon, na ja, immerhin. 

Der deutsche Pavillon in den Giardini – eigentlich auch leer und lichterfüllt schön als Raum. (Foto: Flavia Rossi)

Vor Ort war das Navigieren im virtuellen Raum angenehmer. Es ändert eben schon etwas, ob man die digitalen Formate vor Ort oder daheim vor dem Bildschirm »konsumiert«. Auch ein leerer Raum ist eben ein Raum, den man erfahren kann. »Der physische Pavillon fungiert als Schnittstelle zum virtuellen Pavillon: Während das Gebäude die Ausstellung räumlich verankert, wird sie im virtuellen Pavillon in die zeitliche Dimension erweitert. Das Virtuelle transformiert die physische Ausstellung mit Hilfe digitaler Formate zu einer mobilen Erfahrung von 2038, zugänglich von überall und zu jeder Zeit«, heißt es weiter in der Konzeptbeschreibung. »2038 erzählt, wie wir in der Zukunft miteinander leben wollen.« Damit antwortet dieser Pavillon ziemlich genau auf die von Hashim Sarkis gestellte Frage »How will we live together?«. Vielleicht werden wir in Zukunft tatsächlich nicht mehr so streng trennen zwischen virtuellen und realen Räumen. Im Moment bin ich froh, dass ich Venedig mit meinem »echten« Körper besuchen konnte. Das war besonders nach dieser Zeit der Einschränkungen wohltuend. Apropos Gelassenheit und Serenity: Trägt Venedig nicht den Beinamen La Serenissima (Serenissima Repubblica di San Marco, durchlauchtigste Republik des Heiligen Markus)? Scheint also durchaus ein Konzept zu sein, das zu Venedig passt.

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