Von Unabhängigkeit und Mut, Feingefühl und Großzügigkeit – zum Tod von Silvia Gmür

Andreas Ruby
3. Februar 2022
Foto: Zsigmond Toth


Mit großer Trauer haben wir vom Tod von Silvia Gmür vorige Woche erfahren. Sie war eine der angesehensten Persönlichkeiten der Schweizer Architektur, weithin geschätzt für die Feinfühligkeit ihrer Entwürfe und Bauten und ihr warmes und freundlich-vornehmes Wesen, mit dem sie anderen begegnete. 1939 in Zürich geboren, gehörte sie zur ersten Generation von Architektinnen, die die männliche Dominanz des Berufsstandes in der Schweiz zu durchbrechen begann. Nach ihrem Abschluss als Architektin an der ETH Zürich im Jahr 1964 hatte sie zunächst einmal große Lust, die Schweiz zu verlassen und Erfahrungen im Ausland zu sammeln. Dass sie nach der A-Matura noch kein Englisch sprechen konnte, hielt sie nicht davon ab, ihre erste Stelle in einem Londoner Architekturbüro anzutreten und später nach New York weiterzuziehen, um dort weitere Bauerfahrung zu sammeln. 1972, ein Jahr nachdem die Frauen in der Schweiz endlich das Stimmrecht erlangt hatten, entschied sie, in die Schweiz zurückzukehren und ihr eigenes Büro Silvia Gmür Architekten in Basel zu eröffnen – als Frau, 33 Jahre jung, ohne männlichen Büropartner, ohne ein festes Gehalt aus einer Professur und als Zürcherin ohne Netzwerk in Basel. Es braucht viel Mut, intellektuelle Unabhängigkeit und Entschlossenheit, um unter solchen Bedingungen eine Karriere als Architektin zu starten. Aber sie wurde von der Lust am Abenteuer der Architektur angetrieben, nicht von der Vorstellung einer abgesicherten Karriere. Als sie einmal von einer Schweizer Zeitung nach drei Faktoren für den Erfolg im Leben gefragt wurde, antwortete sie dem Interviewer, das solle er lieber jemanden fragen, der sich für Erfolg interessiere.

 

Bürgerspital Solothurn, 2008–2021 (Foto: Luca Ferrario)
Casa ai Pozzi, 2007–2011 (Foto: Hélène Binet)

 

Für Silvia Gmür war das Entwerfen ein heuristisches Experiment, um die Kraft der Architektur zu entfesseln, im Leben der Menschen einen Unterschied zu machen. Vielleicht hat sie deshalb ein besonderes Interesse für eine Typologie der Architektur entwickelt, die sich um Menschen kümmert, wenn diese sie am meisten brauchen: Krankenhäuser. Sie hat eine ganze Reihe von ihnen in der ganzen Schweiz gebaut. Zwischen 1990 und 2000 leitete sie die Gesamtsanierung (und teilweise Umgestaltung) des Klinikums 1 des Universitätsspitals Basel, einem Leuchtturm des Krankenhausbaus von Hermann Baur (1894–1980) aus den 1940er-Jahren. Sie ließ das in die Jahre gekommene Gebäude wieder aufblühen, ohne ihm dabei ihre Handschrift aufzudrücken – eine beinahe unsichtbare Intervention, dank der die ursprüngliche Schönheit des Hauses weiterleben kann. An der Westseite dieses Gebäudes fügte sie später das Frauenspital hinzu, eine kühne Geste, die sie zusammen mit Livio Vacchini realisierte, mit dem sie eine Zeit lang ein gemeinsames Büro teilte – ebenfalls ein ungewöhnlicher Schritt im Kontext der Schweizer Architektur, die grundsätzlich ziemlich klar in regionale Szenen aufgeteilt ist. Nach dem Ende dieser Partnerschaft übernahm sie von 2002 bis 2005 als Präsidentin des Bundes Schweizer Architektinnen und Architekten (BSA) Verantwortung für den Berufsstand, bevor sie ihr Büro in Partnerschaft mit ihrem Sohn Reto Gmür neu gründete, der ihr Werk nun weiterführen wird.

 

Institute für Rechtsmedizin und Pathologie des Kantonsspitals St. Gallen, 2009–2011 (Foto: Hélène Binet)


Das Schweizerische Architekturmuseum (S AM) ist Silvia Gmür zu besonderem Dank verpflichtet, denn als das Museum 2004 aus seinem ursprünglichen Domizil im Domus Haus in Basel auszog und nach Mietern für die Räumlichkeiten suchte, um den Museumsbetrieb zu finanzieren, zögerte sie nicht, ihr Büro in das Gebäude zu verlegen und ist bis zuletzt dort geblieben. Wir haben sie das letzte Mal an der Benefizauktion anlässlich der 35-Jahr-Jubiläumsausstellung des S AM getroffen. Sie stiftete eine Originalausgabe des Buches »Zwei Wohnhäuser von Le Corbusier und Pierre Jeanneret: Fünf Punkte zu einer neuen Architektur« von 1927, ein seltenes Exemplar, das man im Internet nur zu exorbitanten Preisen findet. Aber sie überreichte es uns, als wäre es halt einfach ein kleines Buch. So war sie, großzügig und nie dazu aufgelegt, eine große Sache aus dem zu machen, was sie tat. Sie war ein stiller Mover and Shaker in der Architekturbranche und wird vermisst werden. Jüngere werden in ihre Fußstapfen treten, um ihr Erbe fortzuführen. Angesichts der ganz besonderen Inspiration, die sie jüngeren Architekt*innen zu geben vermochte, sind wir zuversichtlich, dass diese das auch tun werden. Unser tiefes Beileid gilt Reto, Linda, ihrer gesamten Familie und allen, die ihr im Leben und bei der Arbeit nahestanden.

 


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