Wie Deutschland den Klimaschutz vorantreiben könnte

Katinka Corts
2. Dezember 2022
Foto: Aleksandr Neplokhov via Pexels

»An die Menschen überall: Ich möchte Sie ermutigen, Ihre Anstrengungen in diesem neuen Jahrzehnt und in dieser neuen Phase zu verdoppeln«, sagte Patricia Espinosa Cantellano, die UNFCCC-Exekutivsekretärin, im Mai. Am 20. November nun ist die 27. Klimakonferenz der UN (COP27) im ägyptischen Sharm El-Sheikh zu Ende gegangen, im Zuge derer wir neue, erschreckende Zahlen gehört haben; unter anderem zu den »heißesten Jahren seit Beginn der Aufzeichnungen«, dem doppelt so schnellen Anstieg des Meeresspiegels und einem neuen Höchststand bei der Menge an Treibhausgasen in der Atmosphäre. Das 1,5-Grad-Ziel scheint bereits unerreichbar. Doch umso mehr gilt es, gegen die weltweite Klimaerwärmung vorzugehen und Treibhausgasemissionen als Quelle der Klimaerwärmung zu bekämpfen.

Dass der Bausektor einen großen Anteil an den weltweiten CO₂-Emissionen hat, ist hinlänglich bekannt. Der sogenannte Circular Economy Action Plan soll im Rahmen des European Green Deal auf europäischer Ebene dafür sorgen, dass der gebaute Bestand umfassend energetisch saniert wird und die nationalen Bauprodukteverordnungen überarbeitet werden. Im Detail geht es dabei um verstärkte Rezyklatnutzung, digitale Gebäude-Logbücher, Lebenszyklusanalysen von Gebäuden, Zielvorgaben bei der Verwendung von Abbruchmaterial und eine geringere Bodenversiegelung. Hört man die Forderungen der EU, fragt man sich, wo die einzelnen Mitgliedsländer heute stehen.

Deutschland und der Klimaschutz im Bausektor

Blicken wir nach Deutschland: Im Koalitionsvertrag hat die Ampelkoalition ambitionierte Ziele für den Klimaschutz formuliert. Das sogenannte Bundesklimaschutzgesetz sieht vor, dass der gesamte Gebäudesektor 2030 nur noch maximal 67 Millionen Tonnen CO₂-Äquivalent pro Jahr emittieren darf. Die geplante schrittweise Reduktion wurde 2020 um 2 Millionen Tonnen verfehlt, und auch 2021 konnten die Vorgaben nicht eingehalten werden. Der Bodenverbrauch, also die Ausweisung neuer Siedlungs- und Verkehrsfläche, liegt deutschlandweit durchschnittlich bei 54 Hektar täglich. Schon 2020 hätten es nur noch 30 sein sollen. Und nicht zuletzt: Das konkrete Ziel, Materialien in der Bauwirtschaft zu recyceln, ist verwässert: Viel zu viele Baustoffe kommen nicht gleich- oder höherwertig wieder zum Einsatz, sondern enden zerkleinert als Deponie- und Füllgut – ein Downcycling also.

Etwa 90 Prozent Weiterverwertungsquote mineralische Abfälle erscheint auf den ersten Blick hoch, es handle sich aber »nicht um echtes Recycling, sondern um sogenanntes Downcycling, also um eine Verwertung mit geringerem Leistungsspektrum gegenüber dem Ausgangsmaterial.«

Prof. Dr. Anja Rosen, Atlas Recycling

Foto: mali maeder via Pexels
Zirkuläres Bauen fördern

Der WWF Deutschland schlägt in seinem Hintergrundpapier »Circular Economy im Gebäudesektor« verschiedene Szenarien und politische Maßnahmen vor, wie der Gebäudebestand erhalten und saniert sowie Neubauten von Beginn an zirkulär konzeptioniert werden könnten. Er setzt sich dafür ein, auf allen Ebenen des Gebäudesektors die Wiederverwendung zu fördern und öffentliche Gebäude als zentralen Hebel zu nutzen. Die eigenen Forderungen hat der WWF durch das Institut für Klimaschutz, Energie und Mobilität (IKEM) in einer juristischen Kurzstudie überprüfen lassen. Die Energieexpert*innen und Jurist*innen kommen zu dem Schluss: Sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene wären viele Ideen implementierbar oder könnten in der Musterbauordnung (MBO) aufgenommen werden, an der sich viele Landesbauordnungen orientieren.

Lebenszyklusanalysen und Ökobilanzierungen

Besonders der heute immer noch hohe Verbrauch an grauer Energie schlägt bei den Bilanzen zu Buche. Zwar steigen die Energiestandards im Gebäudebereich und die erneuerbaren Energien werden ausgebaut, der Anteil der grauen Energie nimmt damit aber prozentual zu – sie bietet sich als Hebel laut WWF ideal an, kommt im aktuellen Gebäudeenergiegesetz (GEG) jedoch nicht vor. 

Mit Lebenszyklusanalysen und Ökobilanzierungen können die Gebäude als Systeme betrachtet und bewertet werden. Mit derlei Informationen wäre es einfacher, informierte und nachhaltige Entscheidungen zu treffen. Eine große Hilfe könnte dabei auch die Erfassung über BIM sein, denn im Gebäudepass als digitaler Zwilling des Baus blieben Daten zur Gebäudekonstruktion sowie zu energetischen und bauphysikalischen Eigenschaften erhalten. Gesetzlich verankert und in ganz Deutschland vorgeschrieben, ergäbe dies eine große und wertvolle Materialquelle im Urban Mining. Hier ist seitens der Ampelkoalition auch schon ein erster Schritt getan, denn ein digitaler Gebäuderessourcenpass ist angekündigt und erste Ansätze zur Umsetzung gibt es bereits. 

Kritiker*innen sehen im kreislauffähigen Gebäude häufig höhere Kosten, und bezogen auf die Erstellung stimmt das derzeit auch noch. Doch nutzt man in Gebäuden langlebige Materialien, die recycelt werden können, zahlt sich das über den Lebenszyklus aus. Für öffentliche Bauvorhaben könnte gar eine obligatorische zirkuläre Beschaffung bindend werden. Wo immer es möglich ist, sollte langlebigen und wiederverwertbaren Materialien der Vorzug gegeben werden, die später zu schadstoffärmeren Abfällen führen.

Priorisierung des Gebäudeerhalts beschränkt Grundrechte nicht

Dass es vielfach sinnvoll ist, Gebäude nicht abzureißen, sondern zu sanieren und umzunutzen, ist keine neue Weisheit. In der MBO jedoch ist der Abriss von nicht denkmalgeschützten Bestandsgebäuden genehmigungsfrei und nur anzeigepflichtig. Interessant an der Zusammenstellung ist, dass die juristische Kurzstudie den Maßnahmenkatalog rechtlich darauf prüft, inwieweit welche Gesetze auf Bundes-, Landes- oder Kommunalebene geändert werden müssten, um die Vorschläge zu implementieren. Die Priorisierung des Gebäudeerhalts stellt laut IKEM keine Beeinträchtigung der Grundrechte dar, weil sich die Maßnahme auf das öffentliche und nicht das private Bauen bezieht. Die Gemeinde behält ihren Gestaltungsspielraum bei der Planung und Organisation von Projekten, sobald das Bauvorhaben geprüft und ein etwaiger Abriss begründet ist. Zuständig dafür sehen die Verfasser*innen den Bundesgesetzgeber im Rahmen des Bodenrechts, der Luftreinhaltung und der Abfallwirtschaft – der Begriff der Luftreinhaltung umfasst auch den Schutz vor Luftverunreinigungen, wozu Treibhausgasemissionen zählen. 

Von der Einführung einer verpflichtenden Abrissgenehmigung versprechen sich die Initianten, dass sanierungsfähiger Gebäudebestand erhalten wird und CO₂-Emissionen, die durch Abriss und Neubau entstehen, eingespart werden können. Weiter schlägt der WWF vor, dass bereits während der Genehmigungsphase auch Rückbaukonzepte verpflichtend vorgelegt werden sollten, damit das bessere Recycling der eingesetzten Bauprodukte sichergestellt ist. Da in Deutschland die Länder die Hoheit über die Bauordnung haben, könnte in beiden Fällen eine Anpassung der MBO auch die jeweiligen Bauordnungen der Länder verändern.

Viele Themen, viele Denkanstöße

Die Zusammenstellung der Vorschläge ist hiermit nicht vollumfänglich besprochen, auch Ideen zum Einsatz von Holz, zur Verpflichtung zu nachhaltiger Energiegewinnung und weitere rechtliche Anpassungen hat der WWF zusammengestellt. Das Hintergrundpapier des WWF sowie die rechtliche Prüfung der Maßnahmen durch das IKEM sind online verfügbar. 

Die Bundesregierung muss weitere verpflichtende Maßnahmen festlegen, damit der Bausektor zunächst einmal die Reduktionsziele und nach 2030 vielleicht auch noch viel tiefere CO₂-Emissionen erreicht. Denn wie es in der Passage zu einer Solarpflicht im IKEM-Bericht heißt: »Als milderndes Mittel kommen zwar finanzielle Anreize in Betracht, diese sind im Verhältnis zu einer Solarpflicht aber nicht gleich wirksam, denn sie beruhen immer auf Freiwilligkeit.« Oder, um es mit den Worten von Patricia Espinosa Cantellano zu beschließen: »Wir haben noch einen weiten Weg vor uns.«

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