Tin House in London

Haus aus Zellen

Thomas Geuder
19. Juli 2016
Das «Tin House» des Architekten Henning Stummel besteht aus mehreren Pavillons, verbunden durch die Materialiät von Dach und Fassade. (Bild: Timothy Soar)

Projekt: Tin House (London, GB) | Architektur: Henning Stummel Architects Ltd (London, GB) | Bauherr: privat | Hersteller: SSAB AB (Stockholm, S), Kompetenz: GreenCoat PLX BT | vollständige Projekttafel s. unten

Shepherds Bush ist ein Londoner Stadtteil, wie man ihn sich gerne typischerweise vorstellen mag: Zahlreiche lange, parallel verlaufende Straßen mit viktorianisch anmutender Reihenbebauung, hübsch Haus an Haus, zwei bis drei Stockwerke hoch, mit typischer Erkerauswölbung im Erdgeschoss, deneben die Treppe, ein Souterrain, Backsteinfassade. Jedes Haus hat seinen schmalen Garten dahinter, entsprechend dicht ist geht es hier städtebaulich zu. In einer solchen städtebaulichen Struktur gibt es eigentlich keinen Platz mehr für zusätzliche Bebauung, auch nicht in zweiter Reihe. Dennoch hat der Architekt Henning Stummel hier eine Fläche für ein Privathaus gefunden, qasi am Kopfende einer Reihe, wo die kettengliedrige Ordnung zwangsweise aufgebrochen werden muss. In dieser noch mehr komprimierten Dichte eine Großzügigkeit zu schaffen, war kein leichtes Unterfangen. Gelungen ist ihm das durch mehrere räumliche Tricks: Die einzelnen Räume hat er zunächst in einzelne Komponenten aufgegliedert. Jeder Raum ist so zum separaten Pavillon geworden, mit eigenem trapezoid geformtem Dach samt Öffnung. Die so entstandenen sechs Minihäuser hat er schließlich um einen gemeinsamen, großzügig wirkenden Innenhof gruppiert, in dem sich sogar ein kleiner offener Pool befindet. Das gesamte Ensemble wirkt dadurch wie ein kleines Dorf, ist in Wahrheit aber ein zusammenhängendes Haus mit allem Komfort, in dem die Räume organisatorisch aneinander gereiht sind.

Farbton und Oberfläche des Tin House folgen dem Farbcharakter der Umgebung, wo roter Backstein das vorherrschende Material ist. (Bild: Timothy Soar)

Um den Charakter eines zusammengehörigen Ensembles deutlich zu verstärken, hat der Henning Stummel allen Gebäudeteilen die gleiche Fassadenhaut gegeben. Dach und Wände sind mit gefalztem Stahlblech überzogen, dessen Farbigkeit sich den umgebenden Backsteinbauten angleicht. Das besondere dabei: Die Farbbeschichtung besteht aus biobasiertem Stoff, bei dem ein großer Anteil der sonst üblichen fossilen Stoffe durch eine biobasierte Alternative ersetzt wurde (GreenCoat, SSAB). Das reduziert den ökologischen Fußabdruck im Gegensatz zu herkömmlichen Produkten und schafft eine gefühlte Nähe zu den an diesem Ort vorherrschenden Backsteinen. Klempner, Planer und Bauherr müssen dabei auf keinen Komfort verzichten, denn das Produkt ist leichter als alternative Lösungen, sehr beständig gegen Korrosion, UV-Strahlung und Kratzer und lässt sich wie gewohnt einfach biegen, stanzen, schneiden und profilieren – bewiesen anhand (lt. Hersteller) über 10.000 beschichteten Testblechen, die ganzjährig rauem Klima und widrigen Bedingungen, einschließlich Salzwasser, Schnee, Eis, Regen, UV-Strahlung, Wind und Stürmen, an der schwedischen Westküste und in Florida ausgesetzt wurden. Für den Architekten Henning Stummel bedeutet all das zumindest, dass das Material das mitunter raue Londoner Klima ohne Probleme überstehen wird.

In jedem der sechs großen Räume folgt die Decke der Dachform und endet in einer großzügigen Dachluke, durch die viel Licht ins Innere strömt. (Bild: Timothy Soar)

Die räumliche Organisation des «Tin House», wie die Architekten es nennen, hält übrigens einige Überraschungen bereit. Zwischen den großen Räumen, die in Reihe um den Innenhof geschaltet sind, befinden sich kleinere Räume, die als Bindeglied wirken. Die Dicke der Wände wird genutzt, um Nebenräume wie Treppen oder Schränke zu «verstecken», inspiriert von mittelalterlichen Schlössern in Schottland. Dazu gehört auch die Idee, dass die Schlafräume wie in einem Kloster gestaltet sind, jeweils mit einem Schreibtisch samt Blick über den Innenhof sowie einem Waschbecken und einer separaten Dusche mit WC. Die Betten stehen in der Mitte des Raums unter einer Dachluke, wodurch sich der Himmel und Sterne im Liegen beobachten lassen – ein bisschen ist das wie ein Skyspace von James Turrell. Und natürlich passt sich auch der rote Lehmputz an Wänden und Decken ins architektonische Gesamtbild. Der Architekt Henning Stummel hat seine Liebe zur italienischen Renaissance mit der nordischen Reduktion kombiniert und so ein mediterranes Dorf im Kleinformat mit Innenhof, Pool und Schornstein, sprich: Piazza, Brunnen und Campanile geschaffen, in dem man die städtische Hektik gut hinter sich lassen kann.

Das Design der Schlafzimmer ist einer Mönchszelle angelehnt, reduziert, mit Schreibtisch samt Ausblick und zentral unter der Dachluke stehendem Bett. (Bild: Timothy Soar)
Grundrisse Erdgeschoss und Obergeschoss (Quelle: Henning Stummel Architects)
Schnitte (Quelle: Henning Stummel Architects)
Zum Ensemble gelangt man über einen kleinen Stichweg, von dem aus man nach rechts zum Innenhof abzweigt. (Bild: Timothy Soar)
Henning Stummel nutzt den wenigen Platz in zweiter Reihe ideal aus und gruppiert die Pavillons um einen zentralen Innenhof mit Pool. (Bild: Luke Caulfield)

Projekt
Tin House
London, GB

Architektur
Henning Stummel Architects Ltd
London, GB

Leitung: Henning Stummel, Projektleitung: Eliana Sousa

Hersteller
SSAB AB
Stockholm, S

Kompetenz
GreenCoat PLX BT

Bauherr
privat

Tragwerksplanung
Michael Hadi Associates
London, GB

Projektingenieur: Mathai Mathew

Bauunternehmer
Art & Design
Bekenham, GB

Direktor: Artur Koziol, Schreinermeister: Lukas Koziol

Fertigstellung
Dezember 2015

Fotografie
Timothy Soar
Luke Caulfield
 


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