Mario De Biasi, der furchtlose Bilderjäger

Nadia Bendinelli | 2. Mai 2025
Gli italiani si voltano, Milano, 1954 (Foto: © Archivio Mario De Biasi / courtesy Admira, Milano)

»De Biasi ist der Mann, der alles fotografieren kann«, sagte Enzo Biagi, einer der wichtigsten Journalisten und Schriftsteller Italiens. Er könne, so der einstige Nachrichtenchef der RAI, stets das richtige Foto für seine Zeitschrift Epoca liefern. Dabei war es egal, ob De Biasi es mit sibirischer Kälte, einem spuckenden Vulkan, NASA-Astronauten oder einem bewaffneten Konflikt zu tun hatte. Seine Karriere als Fotograf begann mit einem Zufall: Als junger Radiotechniker wurde er während der deutschen Besatzungszeit von Mailand nach Nürnberg geschickt. Bei Kriegsende entdeckte er zwischen den Trümmern ein Handbuch zur Fotografietechnik, das seine Neugierde weckte. Mit einer ausgeliehenen Kamera begann er seine Umgebung zu erkunden. Es war Liebe auf den ersten Blick – und De Biasi widmete sein Leben fortan der Fotografie.

1946 kehrte er nach Mailand zurück, um weiter als Radiotechniker zu arbeiten. Nebenbei hielt er alles, was sein Interesse auf sich zog, mit der Kamera fest. »Schönheit ist überall«, pflegte er zu sagen. In den folgenden Jahren las er unermüdlich Fachzeitschriften, traf bekannte Fotografen und besuchte Ausstellungen. Schließlich konnte er einige Bilder in Zeitschriften veröffentlichen. Seine Aufnahmen von Mailand verhalfen dem Autodidakten zu einer Anstellung bei Epoca – einer Art italienischen Version von Life. Von 1953 an belieferte De Biasi die Zeitschrift für 30 Jahre mit Reportagen aus der ganzen Welt. Damals waren Fernreisen für die meisten unerschwinglich. Die 16-seitigen Fotogeschichten in der Mitte des Hefts luden zum Träumen ein und ließen staunen.

Zahlreiche Berühmtheiten kamen De Biasi vor die Linse. Er dokumentierte historische Ereignisse und interessierte sich gleichermaßen für die kleinen, unbemerkten Alltagsdinge. Er verfolgte unzählige Projekte parallel. Alles Mögliche konnte ihn faszinieren, und so entstanden neben seinen Reportagen in freier Arbeit viele weitere Bildserien. Wie er im hohen Alter mit einem Achselzucken eingestand, hatte er zeitlebens Mühe, untätig zu sein.

Domenica d’agosto, Milano, 1949 (Foto: © Archivio Mario De Biasi / courtesy Admira, Milano)
Il balletto, Rimini, 1953 (Foto: © Archivio Mario De Biasi / courtesy Admira, Milano)
New York, 1956 (Foto: © Archivio Mario De Biasi / courtesy Admira, Milano)

Seine Reportage vom ungarischen Volksaufstand 1956 wurde weltweit publiziert und machte ihn international bekannt. Sie brachte ihm auch den Titel »Italiano pazzo«, also »verrückter Italiener« ein. Denn am Stadtrand von Budapest legten Aufständische De Biasi und seinem Fahrer nahe, die Gegend zu verlassen: Es sei zu gefährlich, dort zu fotografieren. Sein Chauffeur trat daraufhin die Rückreise nach Italien an. Doch De Biasi, der damals noch keinen Führerschein hatte, fuhr alleine weiter. Sein Mut sollte ihm eine Verletzung durch einen Granatsplitter einbringen – aber eben auch eine eindrucksvolle Reportage. Später meinte er, während der Niederschlagung der Revolution hätte er die ganze Bosheit der Menschen kennengelernt. Tatsächlich ist seine Reportage sehr dramatisch, ja schwer verdaulich. Und doch vermittelt sie auch Hoffnung: De Biasi begleitete einige Ungarn, die es über einen Grenzfluss nach Österreich schafften. Mitten im Drama hielt er sogar einen Kuss fest.

De Biasi arbeitete nicht nur an erschütternden und gefährlichen Geschichten. Sein vermutlich bekanntestes Bild, »Gli italiani si voltano« (»Die Italiener drehen sich um«), entstand im Rahmen einer Story für die Wochenzeitung Bolero Film. Dafür ließ er die attraktive, damals noch unbekannte Zirkuskünstlerin Moira Orfei weiß gekleidet durch Mailand laufen – und hielt die Reaktionen der Männer fest. Die Fotografie wurde zur Ikone, weil sie alles zeigt, was Italien in den 1950er-Jahren ausmachte: die Mode, die Lambretta, die Zeitung La Notte, eine schöne Frau und die Piazza del Duomo als Nationalsymbol. 1994 wurde die Aufnahme als Titelbild für die Ausstellung »The Italian Metamorphosis 1943–1968« im New Yorker Guggenheim Museum gewählt, was ihren Symbolcharakter noch weiter festigte.

Maria Callas, Venezia, 1957 (Foto: © Archivio Mario De Biasi / courtesy Admira, Milano)
Brigitte Bartlot, Venezia, 1957 (Foto: © Archivio Mario De Biasi / courtesy Admira, Milano)
Siberia, 1964 (Foto: © Archivio Mario De Biasi / courtesy Admira, Milano)

De Biasi hat rund um den Globus die unterschiedlichsten Sujets fotografiert. Immer kehrte er aber in seine Wahlheimat Mailand zurück, die eng mit seinem Werk und seiner Karriere verknüpft ist. Seine Arbeiten sind ausgesprochen ästhetisch, fein komponiert und wirken trotzdem spontan: Flüchtige Momentaufnahmen zeigen die Menschen, wie sie sind. 

Eine Auswahl aus seinem vielfältigen Werk ist bis zum 18. Mai in der Ausstellung »Mario De Biasi. L’intrepido cacciatore di immagini« bei SpazioReale in Monte Carasso zu sehen. Die Ausstellungsräume im Convento delle Agostiniane sind freitags von 15 bis 19 Uhr und am Wochenende von 10 bis 19 Uhr geöffnet. Die Klosteranlage ist spätestens seit ihrer Restaurierung durch Luigi Snozzi ein architektonischer Hochgenuss. So lohnt sich der Besuch im Tessin doppelt.

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