New York horizontal
Fast sechs Jahrzehnte lang lebte Edward Hopper in New York. Die Stadt war das häufigste Motiv seiner Bilder. Doch er porträtierte nicht die schnell in die Höhe wachsende Metropole mit ihren ikonischen Bauwerken, sondern fokussierte auf die horizontale Stadt.
Edward Hoppers wohl berühmtestes Gemälde, Nighthawks (1942), hängt im Art Institute of Chicago. Obwohl es, wie ein Großteil des künstlerischen Œuvres des Eigenbrötlers, New York – der Stadt, die fast sechs Jahrzehnte lang Heimat und ständiges Studienobjekt des Malers und Illustrators war – und den manchmal etwas verloren wirkenden Großstadtbewohnern gewidmet ist, spielt es in dem opulenten Band »Edward Hopper. New York« nur eine Nebenrolle. Denn dem bereits 2022 im englischsprachigen Original und zwei Jahre später in deutscher Übersetzung erschienenen Buch lag eine Ausstellung im Whitney Museum of American Art zugrunde, das über einen beträchtlichen Teil der Werke von Edward Hopper (1882–1967) verfügt und sowohl die Ausstellung als auch den Katalog ganz überwiegend aus eigenen Beständen bestückte.
In Nyack, knapp 30 Meilen nördlich von Manhattan, aufgewachsen und durch Ausflüge und Theaterbesuche mit den Eltern sowie als pendelnder Kunststudent (ab 1899) früh mit der Metropole vertraut, ließ sich Hopper 1908 in New York nieder. Ab 1913 lebte er in einem dreieinhalbstöckigen Reihenhaus im Greek-Revival-Stil (»The Row«) mit Backsteinfassade und mehreren Künstlerateliers am Washington Square North in Greenwich Village, bis 1932 in einem Ein-Zimmer-Atelier im obersten Stockwerk – ab 1924 gemeinsam mit seiner Frau, der Künstlerin Josephine (Jo) Verstille Nivison – und danach bis zu seinem Tod in einer größeren Wohnung auf der gleichen Etage mit Blick auf den Washington Square Park. Die Atelierwohnung, in der sich Hopper oft ablichten ließ, nachdem er durch eine erste große Ausstellung im Museum of Modern Art (1933) den künstlerischen Durchbruch geschafft hatte, und das stadträumliche Umfeld standen insbesondere in den ersten beiden Jahrzehnten häufig Pate für Skizzen, Radierungen, grafische Arbeiten in verschiedenen Techniken und auch für Ölgemälde. In diesem Refugium, in dem – räumlich separiert – auch seine Frau arbeitete, die ihm zeitlebens auch Modell stand, konnte sich Hopper mit dem Stadtraum New Yorks und mit den ihn wesentlich prägenden Elementen beschäftigen, die er, durch bewusstes Reduzieren auf das für ihn Wesentliche, immer wieder neu zu oft ikonisch gewordenen Tableaus zusammensetzte.
Auf langen Streifzügen durch diverse Stadtteile, bei Fahrten mit der Hochbahn (El) und auch bei häufigen Theater- und Kinobesuchen holte sich Hopper – der viele Jahre lang vor allem von Werbegrafiken und Zeitschriftenillustrationen, aber auch von Drucken seiner Radierungen gelebt hatte (denen im Buch ein eigenes Kapitel gewidmet ist) – Anregungen für sein künstlerisches Werk. Dieses kreiste oft um die gleichen Themen, die sich in einzelnen Bildmotiven gelegentlich überlagerten: die horizontale Stadt(landschaft), Fenster (Ein-, Aus- und Durchblicke), Theater (im wörtlichen und im übertragenen Sinn: aus dem Zuschauerraum beziehungsweise aus einem El-Train-Waggon betrachtet) und, als übergreifendes Thema vieler seiner Arbeiten, »Realität und Phantasie«. »Hoppers New York war tatsächlich ein Produkt seiner persönlichen, im Laufe seines Lebens gesammelten Erfahrungen in der Stadt, der besonderen Art, wie er die Schauplätze und Sinneseindrücke seiner Umgebung verarbeitete«, schreibt Kim Conaty im einführenden Essay. Und weiter: »Hopper schien die Erfahrung, in einer der am schnellsten wachsenden Metropolen zu leben, in seinen Bildern auf eine Art festzuhalten, in der Wandel und Beständigkeit koexistieren konnten.«
Der Bauboom zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die neue vertikale Stadt mit ihren gewaltigen Ingenieurbauleistungen und expressiven Architekturen faszinierten seinerzeit viele Künstler, nicht jedoch Hopper, der zeitlebens das horizontale New York bevorzugte. Er blendete die neuen Hochhäuser zwar nicht vollends aus, doch rückte er sie in den Hintergrund und inszenierte sie gewissermaßen als Eindringlinge in die gewachsene Stadtstruktur der vertrauten Brownhouses und der noch vom menschlichen Maßstab geprägten Straßenräume. So etwa bei seinem legendären Werk Early Sunday Morning (1930), das Jo Hopper in einem »Ledger Book« mit Notizen zu den Gemälden ihres Ehemanns als »7th Ave Shops« bezeichnete: eine gewöhnliche zweistöckige Gebäudezeile mit dunklen Schaufenstern im Erdgeschoss und teilweise heruntergelassenen Rollos der Apartments darüber im Streiflicht der noch tiefstehenden Sonne. Das Gemälde ist sowohl ein Dokument eines dem Maler sehr vertrauten Ortes in der Nähe des Washington Square Parks und zugleich ein Sinnbild für eine Art »Main Street, U.S.A.« (Kim Conaty). Zur gleichen Zeit, als sich das Chrysler Building und das Empire State Building zu weltweit zuvor unerreichten Höhen aufschwangen, richtete Edward Hopper unbeirrt seinen Fokus auf das Horizontale der Stadtlandschaft. »Ich hatte nie etwas übrig für die Vertikale«, bekannte der Künstler 1956.
Das Buch präsentiert neben 155 Tafeln (davon 67 großformatige Farbtafeln) und zahlreichen weiteren Abbildungen (Gemälde- und Grafikreproduktionen, historische und zeitgenössische Fotos) auch einen Teil der umfangreichen Dokumente aus dem Danborn Hopper Archiv am Whitney Museum. In ihrem Aufsatz »Wir bleiben wachsam« beschreibt Jennie Goldstein das enorme Engagement des Ehepaars Hopper für die Bewahrung der durch neue Bauprojekte bedrohten Bausubstanz und der Bewohnerschaft in Greenwich Village, das im Falle des von ihm selbst bewohnten Hauses am Washington Square erfolgreich war (die Hoppers entgingen 1947 nur knapp einer Räumung, als die New York University das Haus für eigene Zwecke nutzen wollte). »Hoppers Werk erinnert uns an das Unvermeidliche [die Veränderung von Städten, Anm. oh], wirft aber auch ein Licht auf das, was bleibt und unsere Phantasie immer noch gefangen nehmen kann, in den stillen Momenten, abgelegenen Ecken und zufälligen Begegnungen des Großstadtalltags, wenn wir nur die Augen aufmachen.« (Kim Conaty)