Eine Frage der Absprache

Autor:
Thomas Geuder | Praxis
Veröffentlicht am
Apr. 7, 2015

Wenn mehrere Bauherren sich in einem Baugruppenprojekt organisieren, geht es ihnen um maximale Individualität innerhalb einer Gemeinschaft. Das funktioniert am besten mit Standards, die für alle gelten, wie das Cohousing-Projekt R50 in Berlin-Kreuzberg zeigt.
Das freistehende, von unterschiedlichen Berliner Wohnbaukonzepten der Nachkriegszeit umgebene Gebäude hat sechs Vollgeschosse, ein Souterrain- und ein Dachgeschoss. (Bild: Andrew Alberts) 
Im Grunde ist die Idee nicht verkehrt: Eine Gruppe Bauwilliger tut sich zusammen und entwickelt gemeinsam ihr eigenes Gebäude, vom ersten konzeptionellen Gedanken bis zum fertigen Haus. So entsteht am Ende ein Ergebnis, bei dem alle mitgewirkt haben und das deswegen für alle die richtige Lösung ihrer Wohnträume darstellt. So geschehen beim Cohousing-Projekt R50 in Berlin-Kreuzberg, das von den Architekten (einer Projektgemeinschaft der beiden Büros ifau und Jesko Fezer, sowie HEIDE & VON BECKERATH) initiiert, im Rahmen eines konzeptgebundenen Grundstücksvergabeverfahrens entwickelt und in enger Abstimmung mit den Bauherren realisiert wurde. Entstanden ist hier ein freistehendes Gebäude mit sechs Vollgeschossen, einem Souterrain- und einem Dachgeschoss mit insgesamt 19 individuellen Wohnungen, einem Studio und gemeinsam nutzbaren Räumen. In aufwändigen, vorarchitektonischen Studien – ein Prozess der intensiven Befragung, Diskussion und Planung – haben sich alle Projektbeteiligten ihre Wohnträume einbringen können und so eine inhaltliche Grundlage geschaffen, der dann eine räumliche Dimension gegeben und in konkrete Grundriss-Entwürfe für die Wohnungen und gemeinschaftlich nutzbaren Räume umgesetzt werden konnte.
Die Architektur ist getragen von dem Anspruch der Bewohner, gemeinsam und kostengünstig zu leben und zu arbeiten. (Bild: Andrew Alberts) 
Gemeinsam Bauen bedeutet auch, sich trotz aller angestrebten Individualität auf gemeinsame Standards beim Gebäude zu einigen, vor allem was die verwendeten Materialien und übergeordnete Form betrifft. So besitzt das Gebäude zunächst eine einfache Grundform: In der Grundrissmitte befindet sich eine Kernzone mit den Bädern, Küchen und dem Treppenhaus, um die sich pro Etage immer drei Wohnungen gruppieren. Deren Grundriss ist frei wählbar, innerhalb eines Grundrasters von 60 cm. Dieses Raster definiert auch die Möglichkeiten der Positionierung der Öffnungen in der Holzfassade. Außen am Gebäude besitzt jedes Stockwerk einen umlaufenden Rundgang, der wiederum für alle Bewohner zugänglich ist. Die tragende Gebäudestruktur besteht aus einem auf das Notwendigste reduzierte Stahlbetonskelett und lässt so – ganz im Sinne von Le Corbusiers Dom-ino-Systems – alle Freiheiten für die räumliche Konfiguration. Dieser Geist drückt sich auch in der modularen Holzfassade aus, die eigens für dieses Haus entwickelt wurde und mit flexiblen, nach außen aufschlagenden Fenstertürelementen ausgestattet ist.
Parallel zum Findungsprozess der Wohnungs- und Raumgrößen wurden verbindliche Ausstattungsstandards entwickelt und festgelegt. (Bild: Andrew Alberts) 
Der Wunsch nach Individualisierung bzw. die notwendige Standardisierung der baulichen Grundsubstanz kommt auch in den Materialien Ausbau zum Ausdruck, bei dem die Wände zunächst völlig unverkleidet belassen wurden. Selbst am Boden findet sich nur der blanke Estrich. Wichtig beim Bau war vor allem der Zeitfaktor, und so wurde ein schnell trocknender Estrich verwendet: Athe Vuno trocknet „von unten nach oben“ (daher der Name), wird an sich schon trockener als ein herkömmlicher Fließestrich eingebracht und kann deswegen schon nach wenigen Tagen belastet werden. Das funktioniert vor allem unter idealen Bedingungen, weswegen vor dem Verlegen eines Bodenbelags (etwa eines Parkettbodens) eine Feuchtigkeitsmessung etwa per CM-Messung empfehlenswert ist. (Bei einer Fußbodenheizung eine Markierung beim Einbringen des Estrichs nicht vergessen, damit man später nicht die Leitungen anbohrt!) Auch sollte man dem (geprüften) Verarbeiter genau auf die Finger schauen, damit der den Estrich absolut eben einbaut – anders als bei einem Fließestrich, der sich selbst quasi nivelliert. Dafür erhält man einen Boden, der baubiologisch geprüft und ohne Schadstoffe ist (eco institut, tested product, ID 0308-13256-001), der schwundfrei trocknet, weniger Dehnfugen benötigt und deswegen auch eine erweiterte Gewährleistung erhält.
Ein leicht abgesenktes Souterrain-Geschoss, in dem sich auch der Gemeinschaftsbereich befindet, erlaubt die Zugänge zum Haus und vermittelt zwischen öffentlichen und privaten Räumen. (Bild: Andrew Alberts) 
Für die Bauherren und Planer von R50 ist das Baugruppenprojekt ein Modell, das differenzierte Möglichkeiten für einen kostengünstigen und zeitgemäßen Wohnungsbau aufzeigt und gleichzeitig ein hohes Potenzial an Flexibilität und Anpassungsfähigkeit mit sich bringt. Im Rahmen des integralen Entwurfskonzeptes sehen die Beteiligten soziale, kulturelle, ökonomische und ökologische gleichermaßen berücksichtigt. Das sind nicht zu unterschätzende Faktoren einer nachhaltigen Bauweise. Außerdem und immerhin: Die Festsetzungen der EnEV 2009 wurden um 30 % unterschritten. tg
Der Entwurf beruht auf einer klaren städtebaulichen Position, einer robust angelegten und durchdetaillierten Architektur sowie einem kollektiven und individuellen Prozess der Aneignung. (Bild: Andrew Alberts) 
Vorarchitektonische Studien (Quelle: HEIDE & VON BECKERATH) 
Lageplan (Quelle: HEIDE & VON BECKERATH) 
Grundrisse (Quelle: HEIDE & VON BECKERATH) 
Gebäude, Bestandteile und Gemeinschaftsflächen (Quelle: HEIDE & VON BECKERATH) 
Detail Fassadenaufbau (Quelle: HEIDE & VON BECKERATH) 
Detailschnitt Fassade mit Wand- und Decken- bzw. Bodenaufbau (Quelle: HEIDE & VON BECKERATH) 
Die umlaufenden Balkone verknüpfen die Wohnungen der einzelnen Geschosse wie auch das Treppenhaus mit dem Fahrstuhl über den Außenraum. (Bild: Andrew Alberts) 
Selbstverständlich gehört auch das Dach zu den gemeinschaftlich genutzten Flächen. (Bild: Andrew Alberts) 

CM-Messung zur Feuchtemessung im Estrich (Karl Dahm, Dauer: 4:13 min.)
Projekt
R50 – Cohousing
Berlin, D

Architekten
Projektgemeinschaft ifau und Jesko Fezer | HEIDE & VON BECKERATH

ifau und Jesko Fezer
Berlin, D
Susanne Heiß, Christoph Heinemann, Christoph Schmidt und Jesko Fezer

HEIDE & VON BECKERATH
Berlin, D
Verena von Beckerath, Tim Heide
Mitarbeit: Vladimir Fialka, Adrian Heints, Tobias Luppold, Noa Marom, Wolfgang Rehn, Verena Schmidt

Hersteller
Athe Therm Heizungstechnik GmbH
Emmerthal, D

Kompetenz
Schnellzement-Estrich AtheVuno

Bauherr
privat

Projektsteuerung
Büro für Projektentwicklung und die Architekten Winfried Härtel
Berlin, D

Tragwerksplanung
StudioC Nicole Zahner
Berlin, D

Haustechnikplanung
Ingenieurbüro N. Lüttgens
Berlin, D

Bauleitung
DIMaGB
Berlin, D

Fertigstellung
2013

Fotografie
Andrew Alberts



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