Die Renaissance des Glasbausteins

Kaltenbacher Architektur und Steinbauer architektur+design
31. March 2023
Die Glasbausteine der neuen Fassade des Baudenkmals im Abendlicht (Foto: © STEINBAUER architektur+design)
Herr Steinbauer, worin liegt das Besondere an dieser Bauaufgabe?


Besonders wurde das Projekt durch seine baugeschichtliche Komponente: Das nach den Plänen von Peter Behrens und Alexander Popp in den 1930er-Jahren als Tabaklager errichtete »Haus Havanna« liegt nahe der Donaulände im Industrieensemble der Tabakfabrik Linz. Mitte der 1960er-Jahre wurde das Speichergebäude aufgestockt, und die Freiräume zwischen den weiteren Magazinen wurden überbaut. Nach dem Abbruch aller nicht denkmalgeschützten Gebäudeteile im Jahr 2017 stand einer Wiederbelebung des historischen Bestands nichts mehr im Wege. Im Zuge eines EU-weiten Vergabeverfahrens zur Ideenfindung sollte dem vormals weitgehend unbelichteten Bau durch eine neue Fassadengestaltung und die Neukonzeption des Inneren wieder Leben eingehaucht werden.

Diese historische Aufnahme zeigt das Bauwerk in den 1930er-Jahren.
Welche Inspiration liegt diesem Projekt zugrunde?


Das Credo der Revitalisierung des Baus war, die ausgewogene Balance des Industriedenkmals von Peter Behrens trotz eines neuen Fassadenstatements nicht in ihrer starken Präsenz zu stören, sondern durch ein stimmiges denkmalpflegerisches Konzept zu ergänzen. Die Inspiration und zugleich der Hauptakteur war dabei ein Baustoff aus dem frühen 20. Jahrhundert – der Glasbaustein. Diese Materialwahl ermöglicht eine maximale Lichtausbeute und legte so den Grundstein für die Nachnutzung des ehemals dunklen Tabaklagers.

Die neue Fassade besteht zu großen Teilen aus Glasbausteinen. Dieser Schritt ermöglichte, die vormals dunklen Innenräume einer neuen Nutzung zuzuführen. (Foto: © Steinbauer architektur+design)
Wie hat der Ort auf den Entwurf eingewirkt?


Das Ensemble der Tabakfabrik Linz hat den Entwurf entscheidend geformt. So entspricht der neu errichtete Fassadenvorhang, bestehend aus über 70'000 Glasbausteinen, der vorherrschenden Horizontalgliederung aus dem ursprünglichen Entwurf von Peter Behrens. Alle tragenden Bauteile der Unterkonstruktion aus Stahl verschwinden im Inneren der Glasbausteinfugen und werden ausschließlich horizontal in Form einer tragenden Fensterbänderung sichtbar. 

Die Stahlfenster gliedern sich wiederum im vorgegebenen Raster der denkmalgeschützten Betonskelettstruktur und ermöglichen durch eine Schwingflügelöffnung – ebenfalls als Zitat auf das historische Vorbild – eine natürliche Belüftung. Um eine klare Kontur zwischen Bestehendem und Neugeschaffenem zu erzeugen, haben wir die gesamte Glasbausteinfassade mit einem schwarzen Stahlband umschlossen, das seinen Abschluss in einer neuen Vordachkonstruktion findet. Das ursprüngliche Vordach ging durch einen Abbruch in den 1960er-Jahren unwiderruflich verloren. So unterstreichen das subtile Zusammenspiel der verwendeten Baumaterialien und die Gliederungen der Fassade die charakteristische Anmutung der Tabakfabrik Linz.

Nordansicht (Foto: © Steinbauer architektur+design)
Ansicht von Nordwesten (Foto: © Steinbauer architektur+design)
Inwiefern haben Bauherrschaft, Auftraggeber oder die späteren Nutzer*innen den Entwurf beeinflusst?


Das Projekt entstand durch eine klare Trennung der individuell gestalteten und geschossweise in ihrer Nutzung differenzierten Innenräumen und der Revitalisierung der Grundsubstanz selbst. Zu den wichtigsten Änderungen zählen die für die Nachnutzung entscheidende neue Glasbausteinfassade und das neue Erschließungs- und Versorgungssystem. So wurden die Innenräume von den künftigen Nutzer*innen wesentlich geprägt. Die Allgemeinflächen entstanden im Austausch mit den Auftraggebenden und dem Bundesdenkmalamt.

Blick durch ein Rundfenster auf die neue Treppenanlage (Foto: © Steinbauer architektur+design)
Die Glasbausteine der neuen Fassade prägen auch die Atmosphäre der Innenräume. (Foto: © Steinbauer architektur+design)
Gab es bedeutende Projektänderungen vom ersten Entwurf bis zum vollendeten Bauwerk?


Die 2018 entstandene Idee zur Fassadengestaltung hat sich in den folgenden vier Jahren der Realisierung äußerlich nicht verändert, aber natürlich technisch weiterentwickelt.

Der Innenraum hingegen und hier vor allem die Erschließung des ehemaligen Tabakspeichers hat sich im Zuge einer intensiven Auseinandersetzung mit der Nachnutzung und in Abstimmung mit den Auftraggebenden und dem Bundesdenkmalamt merklich verändert. Es entstand entgegen der ursprünglichen Idee, die zwei dezentrale Zugänge in das Gebäude vorsah, ein zentrales identitätsstiftendes Entree aus Sichtbeton. Dieser neu geschaffene Treppenturm erzeugt eine introvertierte Umgebung vor dem Eintritt in die individuell gestalteten Büro- und Bildungsflächen. Zwei gegenläufig angeordnete einläufig-spannende Sichtbetontreppen überwinden jeweils die Höhe eines gesamten Geschosses. Die Geländerkonstruktion ist auf massive Rundstahlstäbe reduziert, die mittels vieler Kernbohrungen direkt in den Stiegenläufen verankert wurden. Die charakteristischen Rundverglasungen, eine Reminiszenz an die vielen Bullaugenfenster des Fabrikgeländes, wurden exakt auf Höhe der Kreuzungspunkte der Treppenläufe positioniert. Sie ermöglichen so Einblicke und Ausblicke aus besonderen Blickwinkeln des Magazins.

Die Treppenanlage ist ein wichtiger Treffpunkt. (Foto: © Steinbauer architektur+design)
Lageplan (© Kaltenbacher Architektur und Steinbauer architektur+design)
Grundriss Erdgeschoss (© Kaltenbacher Architektur und Steinbauer architektur+design)
Grundriss Regelgeschoss (© Kaltenbacher Architektur und Steinbauer architektur+design)
Schnitt (© Kaltenbacher Architektur und Steinbauer architektur+design)
Detail der Glasbausteinfassade (© Kaltenbacher Architektur und Steinbauer architektur+design)
Bauwerk
Haus Havanna
 
Standort
Peter-Behrens-Platz 4, 4020 Linz
 
Nutzung
Schul- und Bürohaus
 
Auftragsart
EU-weit offener Realisierungswettbewerb
 
Bauherrschaft
ILG Linz GmbH & Co KG
 
Architektur
Kaltenbacher Architektur zt Gmbh, Scheiblingkirchen
Andrea Crnjak, Wolfang Spies und Peter Salem
 
Steinbauer architektur+design, Wiener Neustadt
Oliver Steinbauer
 
Fachplaner
Tragwerksplanung Bestand: KMP ZT-GmbH, Linz
Tragwerksplanung, Fassade: Thomas Lorenz ZT GmbH, Graz 
Haustechnik: Kinast Schmid GmbH, Linz
Bauphysik: pbW D. Wintersperger, Neuhofen/Krems
Elektrotechnik: ETECH Schmid u. Pachler Elektrotechnik GmbH u. CoKG, Linz
Brandschutz: FSSM GmbH, Linz
 
Fertigstellung
2022
 
Fotos
Steinbauer architektur+design

Other articles in this category