»MIO« – Ein lässiger Typ für eine lässige Gegend

StudioVlayStreeruwitz
28. February 2020
Das Quartiershaus am Brückenplatz des neuen Sonnwendviertels mit »doppeltem Erdgeschoss« (Erdgeschoss und 4. Obergeschoss) und umlaufenden Arkaden-Schleifen. (Foto: Bruno Klomfar)
Worin liegt das Besondere an dieser Bauaufgabe?

»MIO« ist ein lässiges Haus, auf den ersten Blick ganz normal, jedoch voll mit Außergewöhnlichem. Der experimentelle Anspruch des Bewerbungsverfahrens für die Entwicklung eines Quartiershauses im Wiener Sonnwendviertel wurde von uns von der Konzeptphase über die Detailplanung bis hin zur Prozessbegleitung weiterentwickelt. 

Als langfristig nutzungsoffenes Gebäude bricht das Haus den Typus Wohngebäude auf und schafft durch das Zusammenspiel von Typologie, Bautechnik und Programmierung einen Rahmen für die Entfaltung unterschiedlicher Lebensmodelle. Ganz bewusst stellen wir durch diese Wortwahl die Begriffe »Wohnen« und »Arbeiten« in die zweite Reihe. Denn statt eines konkreten Nutzungsmixes sehen wir die Integration eines vielfältigen und über die Jahrzehnte hinweg veränderbaren Nutzungsspektrums in einem Haus als wesentlich für die Stadtentwicklung unserer Zeit an.

Ermöglicht wird das Absetzen der beiden Baukörper durch tragende Außenwände in Kombination mit einem innenliegenden Stützraster und einem aussteifenden Kern sowie einem Infrastruktur-Ringleitungssystem mit Zentralschacht. (Foto: Bruno Klomfar)
Das Haus bietet Raum für unterschiedliche Lebenswelten und ist langfristig nutzungsoffen. (Foto: Bruno Klomfar)
Welche Inspirationen liegen diesem Projekt zugrunde?

Dem vom Wohnbau dominierten Wiener Neubaumarkt fehlten bislang Projekte mit guter Nutzungsmischung. »MIO« soll das als Hybrid aus Architektur und Betreiberkultur ändern. In Kooperation mit dem Bauträger heimbau, den Soziologen von wohnbund:consult, lokalen Akteuren aus der Nachbarschaft und neu Zugezogenen wurden parallel zur Planungs- und Bauphase Räume, Nutzungen, Betreiber- und Fördermodelle entwickelt, beworben und mit den konkreten Interessenten umgesetzt. Das Zielgruppenmarketing, die Moderation der Mitbestimmung, die Vernetzung der Nutzer*innen und die Besiedelung der Gewerbeeinheiten erfolgt im Sinne sozialer Nachhaltigkeit als »Urban Upgrade«.

Die durchgesteckten Mikrolokale im Erdgeschoss verbinden den straßenseitigen Raum mit dem Quartiershof und sorgen für mehr Aktivität in der überdeckten Arkadenzone. (Foto: Bruno Klomfar)
Wie hat der Ort auf den Entwurf eingewirkt?

Das Haus liegt im Sonnwendviertel zwischen einem Geschäfts- und Dienstleistungsviertel am Wiener Hauptbahnhof und der gründerzeitlichen Baustruktur des ehemaligen Arbeiterbezirkes Favoriten, der heute von Migrant*innen geprägt wird. Als exponierter Baustein des Masterplans für den letzten Teilbereich des Quartiers integriert es die kleinteilige Struktur und urbane Energie der gründerzeitlichen Stadt für ein aktives Erdgeschoss. Lokale Gewerbetreibende sowie engagierte Betreiber wurden als Entwickler und Organisatoren der gewerblichen Bereiche gewonnen. Beim Aufbau des Angebots an Gewerberäumen wurde auf ihre Bedürfnissen und Interessen Rücksicht genommen. Ziel war nicht, eine idealisierte Gemeinschaftlichkeit zu schaffen, sondern ein vielfältiges Angebot physischer und kommunikativer »Räume des Möglichen«.

Die Balkonpasserelle verbindet das 1. bis 3. Obergeschoss mit den Arkaden des Erdgeschosses und der Dachterrasse (4. Obergeschoss) und bietet große Aufenthaltsqualität. (Foto: Bruno Klomfar)
Der Dachgarten und der 10 Meter hohe Nussbaum im Hof bilden das Zentrum der Hausgruppengemeinschaft und des Quartiers rundherum. (Foto: Bruno Klomfar)
Inwiefern haben Bauherrschaft, Auftraggeber oder die späteren Nutzer*innen den Entwurf beeinflusst?

Adaptierbarkeit und Flexibilität waren von Beginn an zwei der Prämissen des Projekts. Die Möglichkeit von Änderungen in der Planungs- und Bauphase wurde dem Auftraggeber und den künftigen Nutzer*innen über eine Website und im direkten Dialog mit Hilfe von physischen Modellen kommuniziert. Ihre Wünsche wurden im Projektverlauf berücksichtigt. Eine zentrale Rolle bei der Gestaltung der Gewerbeflächen spielten die »Mikro-PilotInnen«, eine Gruppe kleiner Start-Up-Unternehmen, die bereits seit dem Bewerbungsverfahren im Dialog mit dem Auftraggeber und uns ein Sharing-Konzept für die Gewerbeeinheiten entwickelt hat. 

Basierend auf der robusten Struktur des Hauses konnten programmatische und räumliche Änderungen bis zum Endausbau berücksichtigt werden. Ermöglicht wurde diese Flexibilität, die auch über den Fertigstellungstermin hinaus erhalten bleibt, durch großzügige Raumhöhen, horizontale Ringleitungen für die Gebäudeinfrastruktur, ein Konstruktionsprinzip, das auf einer Mischung von tragenden Außenwänden und einem innenliegenden Stützenraster basiert, installationsfreien Trennwänden sowie zwei unterschiedlichen Dichten von Fensterachsen an der Fassade.

Den Gewerbeeinheiten im Obergeschoss ist eine Balkonpasserelle als Kommunikationsraum vorgelagert. (Foto: Bruno Klomfar)
Gab es bedeutende Projektänderungen vom ersten Entwurf bis zum vollendeten Bauwerk?

Anfangs hatten wir vor, ein gemischt genutztes Gebäude mit einem Verhältnis von einem Drittel überwiegender Gewerbe- zu zwei Dritteln überwiegender Wohnnutzung zu errichten. Im Projektverlauf wurde diese Zielsetzung leicht in Richtung ein Viertel zu drei Viertel angepasst. 

Das ursprüngliche Szenario für die Gewerbeeinheiten in den Obergeschossen als offene Bürolandschaften mit Infrastrukturinseln wurde unter Einbezug von Nutzerwünschen in separate Mikrobüros mit gemeinschaftlich nutzbaren Einheiten transformiert. Über die hofseitige Balkonpasserelle sind die Gewerbeeinheiten im Obergeschoss mit den kleinteiligen Gewerbelokalen im Erdgeschoss und einer »Stadtloggia« für Pop-Up-Events verbunden. Die Kleinheit der Gewerbeeinheiten in Kombination mit dem Angebot zur Nutzung von Gemeinschaftsräumen ermöglicht einen besonders niederschwelligen Start.

Statt Zimmerachsen und Apriori-Wände sorgen in den »Loft«-Wohnungen verschiedene Ausstattungspakete für ein breites Nutzungsspektrum, das klassische und experimentellere Lebensformen inkludiert, beziehungsweise zukünftige, noch nicht identifizierbare Lebensweisen adressieren kann. (Foto: Bruno Klomfar)
Wie gliedert sich das Gebäude in die Reihe der bestehenden Bauten des Büros ein?

»MIO« fügt sich als Experimentierfeld für neue Lebensformen in eine mehrjährige Beschäftigung unseres Büros mit radikaler Nutzungsmischung ein. Das Konzept des Quartiershauses ging aus der parallel laufenden Forschungsarbeit am FFG-smart-city-Projekt »Mischung: Possible! - Wege zur zukunftsfähigen Nutzungsmischung« hervor, das vom Klima- und Energiefonds gefördert wurde. Wesentliche Erkenntnisse waren Maßnahmen für das Funktionieren von Mischnutzung, die über die »Hardware« hinausgehen und auch die »Orgware« beziehungsweise die »Software« von Gebäuden und Stadtquartieren berücksichtigen. Orgware und Software beinhalten, auf der Raumstruktur (Hardware) als substanzielles Grundgerüst für Nutzungsoffenheit aufbauend, beispielsweise die Organisation von Funktionen, ökonomische Aspekte und die Sicherstellung der Qualität von Nutzungsangeboten. 

Ein Folgeprojekt von »MIO« ist unser gerade in Planung befindlicher »Loft-Flügel« auf dem Gelände des Wiener Nordbahnhofs, für das wir den Masterplan »Freie Mitte-Vielseitiger Rand« entwickelt haben. Als langfristig nutzungsoffenes Gebäude mit anpassbarer Struktur wird das Projekt, so hoffen wir, den Diskurs um Nachhaltigkeit um eine Facette erweitern.

Situationsplan
Grundriss Erdgeschoss
Grundriss 4. Obergeschoss
Schnitt
»Loft«-Wohnung XS
»Loft«-Wohnung L
»Wohnsalon« XS
»Wohnsalon« L
»Klassik«-Wohnung XS
»Klassik«-Wohnung L
Name des Bauwerks
»MIO« – Quartiershaus am Helmut-Zilk-Park
 
Ort
Sissy-Löwinger-Weg 5, 1100 Wien
 
Auftragsart
Bewerbungsverfahren
 
Bauherrschaft
heimbau – Gemeinnützige Bau-, Wohnungs- und Siedlungsgenossenschaft, Wien
 
Architektur
StudioVlayStreeruwitz ZT GmbH, Wien
Johannes Pointl (Projektleiter), Lukas Brotzge, Paula Fernández San Marcos, Simon Pranter, Marta De Las Heras Martínez, Heike Hümpfner, Bernhard Angerer, Andrei Olaru, Nikolaus Rach, Heike Vögele, Ying-Chuan Chu
 
Jahr der Fertigstellung
2019
 
Auszeichnung 
Kandidatenstatus für die IBA Wien 2022
 
Fotos
Bruno Klomfar

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