Engawa im Rheintal

Ulf Meyer
16. April 2020
Foto: Seraina Wirz
Foto: Seraina Wirz

Das St. Galler Rheintal, in unmittelbarer Nachbarschaft zu Vorarlberg gelegen, ist landschaftlich atemberaubend schön. Dass auf den linksrheinischen Wiesen auch ausgezeichnete Architektur gedeihen kann, beweist die Schule des Landwirtschaftlichen Zentrums im Örtchen Salez. Sie wurde von Andy Senn entworfen; ihm ist ein architektonisches Meisterwerk gelungen – und zwar technisch ebenso wie ästhetisch. Der Holzbau beweist eindrucksvoll, wie angenehm für Auge, Hand und Nase dieser Baustoff ist und wie un-sentimental modern und elegant er (nicht nur) für ein öffentliches Gebäude eingesetzt werden kann. 

Foto: Seraina Wirz
Foto: Seraina Wirz
Foto: Seraina Wirz

Kein zweites Land hat eine so reiche Holzbautradition wie Japan. Seit Jahrtausenden wird dort nicht nur der ästhetische Reiz geschickter Handwerkskunst im Holzbau zelebriert, die althergebrachten Bauformen sind auch in thermisch-klimatischer Hinsicht bemerkenswert. Traditionelle Häuser in Japan sind von einer Engawa, einer umlaufenden, gedeckten Terrasse aus Holz, umgeben. Räumlich wie klimatisch ist diese ein essentielles Detail. Denn unter einem weit auskragenden Dach ist der Raum auf dieser Veranda vor Regen, Schnee, Sonne und der Blendwirkung des Lichts geschützt und verbindet Innen- und Außenraum. Auch bei der Schule in Salez finden sich drei derlei Zonen: an einer Längsfassade in beiden Etagen und auf der anderen Seite nur im Obergeschoss. Entlang der Längsseiten entsteht so ein filterndes Vordach, das für Beschattung und Witterungsschutz der Bel Etage sorgt. Während der Wintermonate hingegen dringt die tiefstehende Sonne in die Innenräume und erwärmt sie.

Foto: Seraina Wirz
Foto: Seraina Wirz

Dies ist nur eines von mehreren sinnfälligen und zugleich einnehmend schönen Details, die der Schulbau mit der Holzbautradition in Nordostasien gemein hat. Die klare Gebäudestruktur und die hohen, gut lüftbaren Räume gehören ebenso dazu wie die Verwendung von hölzernen Fensterläden, um mit einfachen Mitteln umweltfreundlich und energiesparend zu bauen und Komfort zu schaffen. 

Als der Kanton St. Gallen als Bauherr den Architekturwettbewerb auslobte, verlangte er ein Gebäude nach Minergie-Standard. Der Architekt, dessen Entwurf mit dem ersten Preis ausgezeichnet wurde, ließ sich jedoch vom »SIA-Effizienzpfad Energie« leiten. Dieser sieht vor, dass bis zum Jahr 2050 in der Schweiz zwei Drittel weniger Energie verbraucht werden als heute und die Treibhausgasemissionen auf ein Viertel gesenkt werden. Neben der Betriebsenergie werden auch die graue Energie und die standortabhängige Mobilität in die Betrachtung der Nachhaltigkeit einbezogen. Dieses Detail war für die dörflich gelegene Schule, zu der die meisten mit dem eigenen Auto fahren, zunächst eine große Hürde. Die energetische Betrachtung erfolgt jedoch über den ganzen Lebenszyklus des Gebäudes und da die Energie zum Unterhalt diejenige zur Erstellung schon nach kurzer Zeit übersteigt, hat die Schule in Salez, ein Low-Tech-Bau aus Eiche, dennoch gute Karten. Der Stromverbrauch ist gering, denn auf Gebäudesteuerung und Lüftung (mit Ausnahme von Küche, Mensa und Sälen) wurde verzichtet. Stattdessen wurde in eine langlebige Konstruktion investiert, die einfach zu unterhalten ist und natürlich belüftet und belichtet wird. Das Tragwerk ist eine Holzkonstruktion mit Holz-Beton-Verbund-Decken. Das Untergeschoss und die Bodenplatte des Erdgeschosses bestehen aus Stahlbeton, der als thermische Speichermasse dient. Oberlichter bringen natürliches Licht in die Tiefe der Räume. Im Winter liefert eine Holz-Pellet-Heizung Wärme.

Foto: Seraina Wirz

Die Haustechnik ist frei zugänglich, um reversibel und leicht zu warten zu sein. Überall sichtbar angebrachte Leitungen können in den Händen eines unkoordinierten Architekten schnell zum ästhetischen Desaster werden. Andy Senn aber führt alle Leitungen Aufputz so geschickt, dass sie funktionell und optisch ansprechend zugleich sind. Die Zwischenwände könnten versetzt werden, wenn sich Raumzuschnitte in Zukunft einmal ändern sollten. Das wird kaum passieren, denn alle Räume sind generös ausgelegt – nicht zuletzt wegen Raumhöhen von teils über vier Metern. Die warme Raumluft steigt auf zu hochliegenden Kippfenster entlang des Flurs und entweicht in einen mit Glas gedeckten Schlitz im Dach. Durch die Kippfenster fällt zusätzliches Tageslicht in die Klassenzimmer. Öffnet man sie per Handkurbel, kann die verbrauchte Luft entweichen. Durch Lüftungsklappen an der Fassade strömt frische Luft nach. Die Kippfenster stehen von Frühling bis Herbst meist offen und dienen im Sommer der Nachtauskühlung. Im Winter sind sie geschlossen. Die Nutzer*innen können das Raumklima selbst regeln, die Klassenräume können quergelüftet werden. Gute Luft hilft der Konzentration der Schüler*innen und Lehrer*innen. Einzige Ablenkung sind die Ausblicke nach Süden auf grüne Felder vor einer imposanten Bergkulisse. 

Durch einfache Raumerweiterungen im Grundriss und Schnitt erhält die Schule räumliche Raffinesse und Varianz. Sie ist so attraktiv, dass man am liebsten dort einziehen würde. Tatsächlich dient der kurze Schenkel des L-förmigen Gebäudes als Wohntrakt. Er ist bei gleicher Höhe wie der lange in drei Stockwerke aufgeteilt und beherbergt geschmackvolle, aber einfache Internatszimmer. Eine derart attraktiv gestaltete Schule wirkt wie eine gebaute Werbung für eine Ausbildung in der Landwirtschaft!

Grundriss Erdgeschoss
Grundriss 1. Obergeschoss
Grundriss 2. Obergeschoss

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