Tbilisi ist ein Schmelztiegel – auch in architektonischer Hinsicht

Susanna Koeberle
23. June 2022
Die Ausstellung »In Heat Wind Wound Holes« in der Galerie LC Queisser macht die Vielschichtigkeit von Tbilisi deutlich. (Foto: mit freundlicher Genehmigung von LC Queisser, Tbilisi)

 

Beim zweiten Besuch in einer fremden Stadt erhalten erste Eindrücke schärfere Konturen. Auch Begegnungen mit Menschen tragen zu einem präziseren Bild bei. Meist weiß man nach diesem zweiten Blick, ob die gemachten Erfahrungen eine nachhaltige Wirkung haben werden. Ob ein Ort also auch auf der persönlichen Landkarte seine Spuren hinterlässt, die man weiterverfolgen möchte. Das hat Tbilisi, die Hauptstadt Georgiens, in meinem Fall definitiv getan. Nach einem ersten Besuch im Sommer 2019, bei dem ich zusammen mit der Gründerin der NGO co/rizom auch Orte außerhalb der Hauptstadt erkunden konnte, konzentrierte ich mich im Mai dieses Jahres auf die Stadt Tbilisi. Anlass meines Aufenthaltes war ein erneuter Besuch bei einem Handwerker, mit dem co/rizom seit Anfang 2019 zusammenarbeitet. 

Zwischen den beiden Besuchen lag die Pandemie, die für Georgien mehrere Lockdowns und die Schließung der Grenze bedeutete. Diese Zeit war für den Holzschnitzer Zaza Gatenashvili besonders hart. Die Einkünfte aus der Tourismusbranche brachen ein, die finanzielle Unterstützung durch den Staat blieb weitgehend aus und auch Besuche in seinem Heimatdorf waren nicht mehr möglich. Zaza lebt seit seiner Flucht aus Südossetien im Jahr 2009 in Tserovani, einer Siedlung für »Internally Displaced People« (IDP) unweit der georgischen Hauptstadt. Den traurigen Umständen zum Trotz zeigt die Kollaboration zwischen der NGO und dem georgischen Handwerker, dass solche Förderprojekte vieles bewirken können. Auch dank einer von co/rizom finanzierten Maschine konnte der kleine Handwerksbetrieb Anfang des Jahres wieder Fahrt aufnehmen. Bald werden die neuen Stücke, die in Zusammenarbeit mit dem belgischen Designer Bram Vanderbeke entstanden sind, in Basel an der Messe Design Miami/Basel zu sehen sein.

Mein Wunsch, diesmal etwas länger in Tbilisi zu verweilen, hing nicht zuletzt mit dem aktuellen Krieg in der Ukraine zusammen. Wer weiß, wie sich das alles entwickelt? Obwohl die Stimmung in der 1,2-Millionen-Metropole grundsätzlich gut war, spürte man deutlich, dass die Solidarität mit der Ukraine für die meisten Bewohner*innen nicht bloß eine gut gemeinte Geste ist, sondern auf der handfesten Befürchtung basiert, dass die Lage jederzeit kippen könnte. Seit dem Kaukasuskrieg im Jahr 2008 ist die Situation angespannt. Der lebendigen und dynamischen Stadt hat das vorderhand wenig anhaben können. Tbilisi hat sich seit der Unabhängigkeitserklärung Georgiens am 9. April 1991 stark verändert und entwickelt und ist in den letzten Jahren zu einer gut besuchten Destination für Kulturinteressierte aus aller Welt geworden. Historisch blickt das Land auf eine bewegte Geschichte zurück, die sich auch deutlich in der Architektur der Hauptstadt widerspiegelt. Die Spuren vergangener Epochen sind sichtbar, die Vergangenheit widerspiegelt sich in der durchaus charmanten Patina vieler Bauten, die man als Zentraleuropäerin vielleicht romantisiert. Der »richtige« Umgang mit dem Bestand ist in Tbilisi ein großes Thema. Trotz bröckelnder Fassaden ist Tbilisi eine vibrierende und moderne Stadt.

 

Stimmungsbild aus den Straßen von Tbilisi der Fotografin Pauline Thurn und Taxis (Foto: Pauline Thurn und Taxis)

Die Unabhängigkeit brachte zunächst Chaos und Verunsicherung, später griff eine gewisse Euphorie um sich, es wurde gerade um die Jahrtausendwende viel gebaut, vor allem eine für diese Zeit typische Repräsentationsarchitektur. Die damalige Regierung begünstigte diese Entwicklung bewusst. Viele dieser ikonischen Bauten stammen von ausländischen Architekturbüros wie beispielsweise Studio Fuksas oder Michele De Lucchi. Letzterer zeichnet für die sogenannte Friedensbrücke (2009–2010) verantwortlich, welche die beiden Stadtteile links und rechts des Flusses Kura (oder Mtkvari auf Georgisch) durch einen zusätzlichen Übergang verbindet. Einen wichtigen Entwicklungsschub in der Infrastruktur dieser auf das 4. Jahrhundert zurückgehenden Ortschaft erfuhr Tbilisi (was auf Georgisch warme Quelle bedeutet) Mitte des 19. Jahrhunderts. In diese frühe Zeit der Industrialisierung fiel der Bau verschiedener Bahnlinien. 

Anfang des 19. Jahrhunderts ließen sich viele deutsche Siedler auf dem linken Ufer der Kura nieder; der Neu Tiflis genannte Stadtteil wurde basierend auf einem strikten Raster geplant. Die deutsche Kolonie, in der viele Handwerker lebten, verlieh Tbilisi eine europäische Anmutung. Die Architektur des 19. Jahrhunderts prägt die Stadt bis heute wesentlich, es stehen in Tbilisi nämlich kaum wirklich alte Bauwerke. Zu diesen gehören etwa die Festung Nariqala, die Ende des 3. Jahrhunderts errichtet wurde, und die türkischen Schwefelbäder aus dem 17. Jahrhundert sowie etwas lieblos renovierte Häuser mit typisch georgischen Balkonen aus Holz in der touristischen Altstadt. Solche Bauten entdeckt man auf Streifzügen durch die Stadt immer wieder. Meist sind sie in einem desolaten Zustand.

Vor allem außerhalb des Zentrums fällt die Bausubstanz aus der Sowjetzeit auf, darunter viele industrielle Bauwerke, die heute Privateigentum sind und häufig leer stehen. Das war auch beim ehemaligen Areal einer Textilfabrik aus den 1970er-Jahren der Fall, das sich ausnahmsweise nicht am Rande der Stadt, sondern im weiter oben erwähnten »deutschen« Wohnviertel befindet. Der Gebäudekomplex, der aus mehreren Bauten unterschiedlichen Alters besteht, stand über zwanzig Jahre leer. Die beiden Gründer von MUA (Multiverse Architecture), Devi Kituashvili (*1977) und Gogiko Sakvarelidze (*1980), befassen sich unter anderem mit dem industriellen Erbe von Tbilisi. Sie entdeckten die leer stehende Fabrik, erarbeiteten ein Konzept zur Umnutzung und suchten dann nach einem Investor. Diesen fanden sie in der Adjara-Gruppe. Das Büro ist an den Einkünften des Betriebs beteiligt. 

 

Die Treppe im Hostel der »Fabrika« ist ein neues Element. Das Konzept bestand darin, möglichst viel von der alten Substanz zu belassen. (Foto: MUA Architects)

Ziel war, das Quartier zu beleben und sowohl für die ortsansässige Bevölkerung als auch für auswärtige Besucher*innen attraktiv zu machen, wie die Architekten im Gespräch erklären. Am Anfang hätten die Leute über das Projekt gelacht und prophezeit, niemand würde kommen, sagen Devi und Gogiko. Heute ist die »Fabrika« gleichsam das Herz des Quartiers. Hierzulande würde man dieses Viertel wohl trendig nennen: Es ist voller Leben und doch nicht (nur) kommerziell. Viele Boutiquen und Restaurants, große Hotels, die meisten Museen, die Regierungsgebäude oder der Freiheitsplatz liegen nämlich auf der anderen Seite der Kura. Auf der linken Seite des Flusses hingegen befinden sich wichtige Lokale der Alternativszene wie etwa der 2014 gegründete Technoklub Bassiani, dessen Ruf weit bis nach Europa (und Russland) strahlt. Auch Politiker lassen sich gerne in der Fabrika blicken. Auf das Unwort Gentrifizierung angesprochen, weisen die beiden Architekten darauf hin, dass die Mieten im Quartier immer noch tief seien. Als die Fabrik schloss, sei auch das Leben verloren gegangen. Sogar Leute, die früher dort gearbeitet hätten, kämen heute ins Areal und seien glücklich darüber, dass der Ort wieder belebt sei, sagen sie.

Auch das Büro von MUA befindet sich auf dem Gelände. Die Stimmung im Hof der Fabrika ist entspannt. Neben dem Hostel gibt es einige Restaurants, Bars und Shops, das Publikum ist jung und man wähnt sich in Berlin oder an einem anderen kulturellen Hotspot. Gesprochen wird aber vor allem Georgisch. Der besondere Spirit dieses Ortes widerspiegelt sich auch im Design des Hostels: Wie heute gang und gäbe ist die Lobby mit vielen Pflanzen bestückt, die Möbel könnten aus dem Brockenhaus sein, und man sieht viele junge Menschen an ihren Laptops. Die Teppiche am Boden stammen allerdings aus Georgien, was dem Raum eine orientalische Note verleiht. »Die Idee des Entwurfs war, so viel wie möglich zu belassen«, so das Credo des architektonischen Konzepts. Sogar die frühere Bemalung der Wände übernahmen die Architekten von der alten Fabrik. Das Ganze wirkt unangestrengt und nicht überdesignt, fast so, als wäre man daheim in der guten Stube. Einiges musste erneuert werden, die Bauqualität war wie bei vielen industriellen Bauten aus der Sowjetzeit miserabel. Das Projekt zeigt das Potenzial von Umnutzungen – auch auf einer soziologischen Ebene. Nicht zuletzt deswegen hat es auch international einige Aufmerksamkeit bekommen.

 

Die Stimmung im Hof der Fabrika ist entspannt. (Foto: Susanna Koeberle)

Das Team von MUA ist zurzeit wieder größer, während der Pandemie standen viele Projekte still und MUA musste die Anzahl seiner Mitarbeitenden reduzieren. Das Büro arbeitet aktuell an verschiedenen Bauten, etwa Villen oder Hotelbauten, und erarbeitet Masterpläne. Es geht dem Team nicht nur um Bauwerke, sondern auch um »Placemaking«. Für die letzte Tbilisi Architecture Biennial im Jahr 2020, die hauptsächlich online stattfand, stellte das Büro im Symposium »Industrial Heritage Tbilisi« eine größere Recherche zum Thema vor; eine Publikation dazu ist soeben erschienen. In ihrem Beitrag betonen die Projektleiterin Natalia Nebieridze von MUA und die Koordinatorin Tata Gachechiladze die gesellschaftliche Bedeutung von undefinierten Räumen. Die undefinierte Leere könne als Metapher und als Zeichen für neue Prozesse interpretiert werden. Die beiden Autorinnen verstehen den Leerstand, der im Zuge der relativ abrupten Deindustrialisierung Georgiens entstand, auch als Chance. Immerhin bestehen siebzehn Prozent des Stadtgebiets aus brachliegenden industriellen Stätten. Obschon sie nicht ihre ursprünglichen Zwecke erfüllen, gehören sie zur Identität der Stadt. Dieses rein physische Material neu zu lesen und es dann einer neuen Nutzung zuzuführen, bedarf zunächst eines entsprechenden Verständnisses. Oder eines Narrativs, wie man das in der Kunstwelt gerne nennt.

 

Installationsansicht der Ausstellung »In Heat Wind Wound Holes« in der Galerie LC Queisser mit Arbeiten von Tolia Astakhishvili, Stefanie Heinze, Keto Logua und Nancy Lupo (Foto: mit freundlicher Genehmigung von LC Queisser, Tbilisi)

Genau mit dieser Relektüre von Schichten befasst sich Tolia Astakhishvili in ihrer Ausstellung »In Heat Wind Wound Holes« in der Galerie LC Queisser – auch sie liegt ganz in der Nähe der Fabrika. Die georgische Künstlerin unterzog die Galerie einer neuen räumlichen Ordnung, indem sie bestehende Gemäuer und Decken herunterriss, den Raum durch neue Wände strukturierte und neue Öffnungen schuf. Sie lud drei weitere Künstlerinnen ein, mit den Räumen zu interagieren. Durch die fragmentierte Installation entsteht für die Besucher*innen eine eigentümliche Raumerfahrung. Diese verändert auch die Art und Weise, wie sie sich durch die Räume bewegen. Ihre Körper werden dadurch gleichsam Teil dieser wild wuchernden neuen Architektur; diese wiederum hinterfragt die Vorstellung von einem Subjekt als etwas Ganzes und Einheitliches. Die Künstlerin erklärt ihren Eingriff folgendermaßen: »Der Körper ist zerbrechlich und ein Teil von ihm. Die ganze Installation ist der Körper selbst. Er ist beschädigt und existiert nicht mehr.«

Diese Identifikation zwischen dem Körper und dem architektonischen Raum ist in Tolias Werk nicht statisch. Es ist, als ob sich der Körper sammelte, wenn er sich durch die Abfolge der Räume, über Schwellen und in den Gängen bewegt, nur um sich wieder im Raum auszubreiten und sich in immer wieder neu angeordneten Teilen wiederzufinden. Das Werk sei eine Art unvollendetes Gebäude, das aber gleichzeitig schon zerstört sei, sagt die Künstlerin. Es habe gerade erst angefangen, gebaut zu werden, aber es sei schon alt. Ist das nicht eine treffende Umschreibung von grundlegenden urbanistischen und gesellschaftlichen Fragen? Was heißt fertig bauen? Und was bedeutet weiterbauen? Wie können alt und neu koexistieren? Wenn Städte sich verändern, wandeln sich ihre Bewohner*innen mit ihnen. Ist es eben manchmal nicht auch umgekehrt? Über den »Umweg« der Kunst erscheint diese Einsicht plötzlich als vollkommen logisch. Kunst und Architektur sind eben keine artfremden Territorien, sondern können sich durchaus gegenseitig befruchten. Die Vielschichtigkeit von Tbilisi ist ein geeigneter Humus dafür.

 

Die Fabrika liegt mitten in einem Wohnviertel. (Foto: MUA Architects)

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