Sozialmaschinen, die die Schwerkraft auszuhebeln scheinen – ein Nachruf auf Paulo Mendes da Rocha

Manuel Pestalozzi
27. mayo 2021
Auf dem Dach des SESC 24 de Maio, dem vielleicht beeindruckendsten und inspirierendsten Bauwerk von Paulo Mendes da Rocha (Foto © Ciro Miguel, 2018)

Paulo Mendes da Rocha wurde 1928 in der brasilianischen Hafenstadt Vitória, Espírito Santo, geboren. Sein Architekturstudium nahm er in der rund 750 Kilometer weiter südwestlich gelegenen Großstadt São Paulo auf. Nach seinem Abschluss gründete er dort 1954 ein eigenes Architekturbüro und blieb der Stadt bis an sein Lebensende eng verbunden. Schon sein erstes Bauwerk, der Club Athletico (1958), erlangte Aufmerksamkeit und ist zwischenzeitlich in die Architekturgeschichte eingegangen. Zuletzt arbeitete er mit dem Büro MMBB arquitetos zusammen. Gemeinsam schufen sie auch eines seiner großartigsten Projekte – den Komplex SESC 24 de Maio. Die Umgestaltung des Verwaltungsbaus eines Möbelhauses ist heute ein öffentliches Wohnzimmer. Es beherbergt Restaurants, Spielplätze, Kletterwände und eine Bibliothek. Und auf dem Dach plantschen und schwimmen an heißen Tagen über 400 Menschen in einem großen Swimmingpool. Bis zu 10 000 Personen besuchen die Anlage täglich.

Überzeugungen, die nicht salonfähig waren

Paulo Mendes da Rochas soziales Engagement war echt und stark. Er gestaltete während seiner Karriere vor allem Stadien, Kirchen und Kulturbauten, aber auch Ämter – Orte für die Gemeinschaft, Orte für die Konstruktion von Gemeinschaft, Sozialmaschinen. Ein interessantes Beispiel ist neben dem eben erwähnten SESC 24 de Maio sein enormer Verwaltungsbau Poupatempo (1998), in dem sich diverse Behörden und ein Polizeirevier befinden. Der Gang aufs Amt kann dort viel angenehmer und schneller erledigt werden als sonst in Brasilien. Mendes da Rochas Arbeit an solchen Projekten hatte zuvorderst auch politische Gründe: Er war – wie João Batista Vilanova Artigas (1915–1985), eines seiner großen Vorbilder – ein bekennender Marxist. Er wurde beispielsweise nicht müde zu betonen, dass Boden öffentlich sein müsse und als nicht vermehrbare Ressource niemals privatisiert werden dürfe. Seine Zughörigkeit zur politischen Linken führte allerdings dazu, dass seine Arbeit international lange kaum beachtet, ja geflissentlich ignoriert wurde. Selbst sein famoser Pavillon für die Expo ’70 im japanischen Osaka, der verwegen auf einem Hügel balancierte, änderte daran kaum etwas. Und schlimmer noch: Auch in seiner Heimat brachte ihm seine politische Haltung während der Zeit der Militärdiktatur (1964–1985) viele Probleme ein. Erst in den 1980er-Jahren durfte er seine frühere Lehrtätigkeit wieder aufnehmen.

Paulo Mendes da Rocha nimmt den Goldenen Löwen in Empfang. (Foto: John Hill)
Später Ruhm

Umso stärker war hingegen die Aufmerksamkeit, die ihm in seiner späteren Schaffensphase zuteil wurde. Dies bezeugt eine veritable Kaskade von großen Ehrungen: Den Mies-van-der-Rohe-Preis erhielt er im Jahr 2000, der so wichtige Pritzker-Preis folgte 2006, 2016 wurde ihm dann der Goldene Löwe der Architekturbiennale von Venedig verliehen und 2017 schließlich auch noch die Goldmedaille des Royal Institute of British Architects (RIBA). 

Im deutschen Sprachraum bemühte sich insbesondere die Schweizer Professorin Annette Spiro, ETH Zürich, um die Vermittlung des Werkes von Paulo Mendes da Rocha. Sie verfasste 2006 die erste umfassende Monografie über ihn auf Deutsch überhaupt. Das Buch würdigt einen Architekten, der den Sichtbeton leicht erscheinen ließ und in einer eigenen, unverwechselbaren architektonischen Sprache ein Werk schuf, das, so schreibt Annette Spiro darin, »durch seine schöpferische Kraft über die vergänglicheren Zeitströmungen hinausragt«.

Licht, Luft und Sonne – und Schatten

Doch nicht nur seine große Finesse im Umgang mit Beton machte die Architektur von Paulo Mendes da Rocha einzigartig. Auch war er ein Regionalist im allerbesten Sinne: Die Konzepte der Moderne passte er den klimatischen und sozialen Bedingungen seiner Heimat an. Auffallendes Merkmal seiner Bauten ist, dass sie nicht nur auf den Ruf nach »Licht, Luft und Sonne« reagieren, sondern zugleich Schatten spenden. Denn in heißen Ländern wie Brasilien brauchen die Menschen vor allem auch Schutz vor der extremen Sonneneinstrahlung.

Am 23. Mai verstarb Paulo Mendes da Rocha. Seine Schaffenskraft hatte bis zuletzt nicht nachgelassen und er hatte sich nicht zur Ruhe gesetzt. Mit ihm verlieren wir nicht nur einen überaus talentierten Gestalter, sondern auch einen politischen Architekten, der für seine Überzeugungen eintrat und stets versuchte, in ihrem Sinne zu handeln.

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