Das Plus-mal-Plus-Prinzip

StudioVlayStreeruwitz
24. juin 2022
Foto: Paul Ott

 

Herr Vlay, worin liegt das Besondere an dieser Bauaufgabe? 

Kindergärten und Schulen sind im kindlichen Alltag die ersten Erfahrungsorte außerhalb des Elternhauses. Fern vom vertrauten Zuhause wird ein neues Raumgefüge täglich erlebt und sich zu eigen gemacht.

In den letzten Jahren hat sich die Pädagogik zunehmend neuen Raumkonzepten geöffnet. Da wir eine Bestandsschule aus den späten 1960er-Jahren erweiterten, bestand die Herausforderung darin, einen gelungenen Dialog zwischen zwei unterschiedlichen Raumkonfigurationen aufzubauen, deren »Philosophie« 50 Jahre auseinanderliegt.

 

Foto: Paul Ott
Foto: Paul Ott
Welche Inspirationen liegen diesem Projekt zugrunde?


Der Patio-Typ der Bestandsschule hat uns dazu angeregt, den Zubau nicht nur als Erweiterung zu denken, sondern mit ihm die Bestandsschule zu rehabilitieren und ihre Potenziale quasi rückwirkend freizulegen. Wir haben eine horizontal geprägte Raumchoreografie entwickelt, welche die Bestandsschule in ihr offenes Raumgewebe integriert. Dabei hat uns das von Louis Kahn (1901–1974) etablierte »Freispielprinzip« inspiriert: Stützen beziehungsweise Pfeiler sollten nicht nur als konstruktive Elemente verwendet werden, sondern darüber hinaus dienende Funktionen aufnehmen, zum Beispiel Stau- und Sanitärräume, Küchen und feste Möbel. Somit werden räumliche Festlegungen auf ein Minimum reduziert. Auf dieser Grundlage haben wir eine Art Tanzboden geschaffen, eine Schule ohne Korridore. Eine Abfolge von offenen Räumen – von der »Avenue« bis zu den Piazzetten – lädt zum Spielen, Tratschen, Ruhen, Schauen und Spazierengehen, aber auch zu neuen Formen des Unterrichtens und Lernens ein.

 

Foto: Paul Ott
Foto: Paul Ott
Wie hat der Ort auf den Entwurf eingewirkt?


Der südliche Stadtteil Liebenau in Graz ist geprägt durch eine kleinteilige Struktur, die aus vielen alten Arbeiterhäusern und einigen neueren Einfamilienhäusern besteht. Das ortsspezifische »Leben im Garten« war prägend für unseren Entwurf. Es bildet den gemeinsamen Nenner zwischen der Schule und ihrem Umfeld. Wir haben folglich das 10000 Quadratmeter große Schulgrundstück mit seinem bungalowartigen Flachbau als großes Haus mit großem Garten interpretiert. Die Flachheit der Landschaft und die »Bodenhaftung« aller Häuser, insbesondere des ebenerdigen Bestandsschulgebäudes, haben uns dazu angeregt, den Zubau als »Schulteppich« zu denken, der im großzügigen Garten horizontal ausgelegt wird und die Bestandsschule in sein Raumgewerbe mit aufnimmt.

 

Gab es bedeutende Projektänderungen vom ersten Entwurf bis zum vollendeten Bauwerk?


Ursprüngliches Ziel des Wettbewerbs war, die Halbtags-Volksschule mit acht Klassen in zwei Bauphasen zu einer Ganztagsschule umzubauen beziehungsweise zu erweitern. Nach der Umsetzung der ersten Bauphase, als die Planung für die zweite Bauphase bereits weit fortgeschritten war, kam der unvermittelte Wunsch der Bauherrschaft, die Schule um vier weitere Klassen zu vergrößern. Um unser ebenerdiges Teppichkonzept nicht zu verunklären, haben wir die vier Klassen als ein über dem Schulteppich schwebendes Holzstück konzipiert. Der Schulteppich selbst blieb fast unverändert, wir haben lediglich eine Treppe und einen Aufzug hinzugefügt.

 

Foto: Bruno Klomfar
Wie gliedert sich das Gebäude in die Reihe der bestehenden Bauten Ihres Büros ein?


Wir betrachten jedes einzelne Projekt als Ressourcen-Coup. Das heißt, dass wir mit unseren Bauten immer auch die Potenziale des Ortes aufleben lassen, indem wir durch das Bauen verborgene Qualitäten des Vorhandenen herausarbeiten. So gesehen kann man unsere Herangehensweise auch als Reparieren von Verhältnissen betrachten. Im speziellen Fall der Volksschule war es die Entdeckung des Potenzials der Bestandsschule als »Bungalow im Garten«. Dadurch wird der Ort zu einer wertvollen Ressource für die Schule, indem er ihr einen ganz besonderen Charakter gibt.

 

Foto: Paul Ott
Foto: Paul Ott
Welches Produkt oder Material hat zum Erfolg des vollendeten Bauwerks beigetragen?


Die Schule war von Anfang an als Holzhybridbau konzipiert. Die Umsetzung des bereits erwähnten »Freispielprinzips« mit U- oder L-förmigen Fertigteilelementen aus Sichtbeton, in welche dienende Funktionen eingebettet sind, trägt wesentlich zur räumlichen und atmosphärischen Qualität der Schule bei. Die haptische Qualität des Betons, der über Matrizen eine besondere Oberflächenstruktur erhalten hat, leistet einen wichtigen sinnlichen Beitrag zur Entwicklung eines »physiologischen Wertebewusstseins«. Gleichzeitig wird der CO2-Impact des Betons kompensiert, indem diese Elemente eine hochanpassbare Raumstruktur schaffen, welche die Grundlage für die Langlebigkeit des Gebäudes bildet.

 

Situation
Axonometrie
Grundriss Erdgeschoss
Grundriss Obergeschoss
Schnitte A und B
Bauwerk
Zu- und Umbau Volksschule Murfeld
 
Standort
Wilhelm-Rösche-Gasse 5, 8041 Graz
 
Nutzung
Ganztagsvolksschule
 
Auftragsart
Generalplanervertrag, Design-to-Cost
 
Bauherrschaft
GBG, Graz
 
Architektur
StudioVlayStreeruwitz ZT-GMBH, Wien
Projektleiter: 1. Phase: Neda Afazel, 2. Phase: Isabelle Züfle 
Mitarbeiter: Lukas Brotzge, Tim Danner, Ruth Tortosa Esquembre, Helmut Gruber, Marta de las Heras, Bernhard Luthringshausen, Julián Ruera und Martin Wild
 
Fachplaner
Tragwerk: Werkraum Ingenieure ZT, Wien
Bauphysik: Vatter Partner ZT-GmbH, Gleisdorf
Brandschutz: Rabl ZT GmbH, Graz
TGA: TB-Käferhaus, Wien
 
Jahr der Fertigstellung
2021
 
Maßgeblich beteiligte Unternehmer
Baumeister: Granit, Graz
Zimmermann: Kulmer, Pischelsdorf
Pfosten-Riegel-Fassade: Petautschnig, Teufenbach
Schwarzdecker und Spengler: Hammer, Graz
Schlosser Innenräume: Trummer, Bad Gleichenberg
Trockenbau: Ruckenstuhl, Leibnitz
Tischler: Tratter, Kanzian
HKLS: Hofstätter, Graz
Elektro: Weiland, Graz
 
Fotos
Bruno Klomfar Fotografie und paul ott photografiert

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