Das Wissen der Hände

Susanna Koeberle
17. août 2020
Der Lehrgang »Konzeptuelle Denkmalpflege« vermittelt einen sensiblen Umgang mit Raum. (Foto: Josef Perger)

Susanna Koeberle: Was ist die Idee hinter dem Lehrgang »Konzeptuelle Denkmalpflege«?

Josef Perger: Dieser Begriff mag irreführend sein, man sollte dabei nicht an Denkmäler wie Triumphbögen denken. Es geht vielmehr um den Umgang mit Gebäuden und Landschaften, die uns nachdenklich machen. Wir fragen uns, wie man diese historischen Bauten in ihrer außergewöhnlichen Qualität bauen konnte. Wir fragen uns als ihre Erben, wie man sie gut erhalten oder so ergänzen kann, dass sie unseren heutigen Lebensformen entgegenkommen. Es geht dabei auch ganz stark um deren jeweiligen Kontext: Man darf Gebäude und Landschaften nicht isoliert betrachten. Das gilt vor allem für ländliche Gegenden. Gerade hier tut der gefühlvolle Umgang mit dem Bestand besonders Not. Aus dieser Not heraus ist auch diese Ausbildung entstanden.

Viele bäuerliche Bauten sind für Handlungen entworfen worden, die heute gar nicht mehr aktuell sind. Das kenne ich etwa aus dem Engadin.

Ja, im Engadin sieht man das etwa bei den Einfahrten für das Heu, die für dieses wertvolle Gut sorgfältig platziert und gestaltet wurden. Heute sind sie aber meist nur noch Dekor. Solche Bauelemente werden dann vielleicht restauriert, aber sie werden dadurch letztendlich zu einer Art Bühnenbild herabgestuft. Diese Häuser wirklich zu verstehen und zu beleben, verlangt eine gewisse Nähe. Das war auch einer der zentralen Gedanken für den Lehrplan. Wir bilden die Studierenden nicht nur theoretisch aus, wir möchten sie möglichst nahe an die Materie, an deren Ort und ihren geschichtlichen Hintergrund heranführen. 

Geht es auch um den Begriff Baukultur?

Ganz wesentlich. Wichtig erscheint mir auch da das Mitdenken des Kontextes. Kleinstädtische Gebäude zum Beispiel hatten früher ausgedehnte Gärten im Hintergrund. Diese fallen heute ökonomischen Spekulationen zum Opfer, werden bebaut oder zu Parkplätzen umfunktioniert. Doch Landschaft und Bauten kommunizierten ursprünglich miteinander und zwar auf allen Ebenen. 

Eine Gruppe von Studierenden befasst sich vor Ort mit der Technik der Frescomalerei. (Foto: Josef Perger)

Welche Rolle spielt in diesen ländlichen Gegenden der Tourismus?

Der Tourismus hat viele Gesichter. Dieser Aspekt wird auch in der Ausbildung berücksichtigt. Der Tourismus bringt Geld und macht es möglich, dass wertvolle Bauten restauriert werden. Andererseits gehorcht er zumeist vordergründigen ökonomischen Gesetzen. Aber es gibt auch gute Beispiele für die Wiederbelebung eines historischen Baus, wo mehr entsteht als ein Bühnenbild, um beim Vergleich zu bleiben. Aber dafür braucht es wohlüberlegte Konzepte, bei denen man ganz genau hinschaut. In diese Richtung möchten wir die Studierenden ausbilden. 

Im Lehrplan fällt auch auf, dass das Thema Handwerk sehr wichtig ist. Welchen Einfluss hat das auf die Zusammensetzung der Studiengruppen?

Die Studierenden, die zu uns kommen, haben tatsächlich einen sehr gemischten Hintergrund, darauf legen wir großen Wert. Es kommen einerseits engagierte Handwerker*innen zu uns, die kein Abitur haben. Bei ihnen wird die berufliche Erfahrung angerechnet. Ein anderer Teil der Gruppe hat bereits Hochschulausbildung hinter sich. Das geht innerhalb unseres Konzeptes sehr gut zusammen. Auch hochausgebildete Architek*innen haben nicht das Gefühl etwas zu versäumen, lernen sehr viel von ihren Kollegen aus dem Handwerk. Denn das Hand anlegen kommt in universitären Studienangeboten kaum vor, gilt als zweitrangig. In vielen europäischen Ländern ist auch der Berufsweg über die Lehre (besonders für die Eltern) ein Berufsweg zweiter Wahl; das ist in der Schweiz etwas ausgeglichener. Gerade am qualitätsvollen Bau gibt es so viele Aspekte, welche die Sinnlichkeit und den Verstand herausfordern. Ihre Kombination wird nicht bewusst gefördert. Es gibt an unseren Schulen kein Fach, das unsere sinnliche Wahrnehmung schult. In der Renaissance war das noch nicht so. 

Liegt da also auch etwas brach, das Sie anstoßen und fördern möchten mit dem Lehrgang? Etwa das Sensibilisieren für das Wissen der Hände?

Das Wissen der Hände ist eine gute Metapher. Das gefühlvolle Ertasten wird im Endeffekt zwar durch das Gehirn gesteuert. Aber einen Hobel so führen zu können, dass eine gute Oberfläche entsteht, ist eine Fähigkeit, bei der Hand, Auge und noch andere Dinge eine Rolle spielen. Das kann man nur lernen, wenn man etwas anfasst.

Es geht auch um das Fördern des Wissens der Hände. (Foto: Josef Perger)

Auch Richard Sennet erwähnt in seinem Buch »Handwerk« diese Verbindung zwischen Hirn und Hand. Geht es Ihnen auch darum, dieses verlorene Potenzial aufzuarbeiten?

Ja, wir möchten dieses Potenzial aufwerten und einer neuen Wertschätzung zuführen. Seine Degradierung fand in den letzten 300 Jahren schleichend statt. Gerade die Aufklärung zum Beispiel fokussierte auf Dinge, die man sprachlich beschreiben kann. Das Wissen der Hand ist aber sehr schwer beschreibbar. Es gab dann zwar im 19. Jahrhundert eine Reihe von Büchern über verschiedene Handwerke, aber wenn man diese liest, kommt man der Sache überhaupt nicht näher. Sie sind meist aus einem enzyklopädischen Interesse entstanden. Was die Hand weiß, ist eben nicht in einem Set von Regeln fassbar. Ein 90-jähriger Werkzeugschmied sagte mir kürzlich, man müsse eine Axt schon etwa tausend Mal gefertigt haben, um ihre Form, Funktion und Haltbarkeit souverän zu beherrschen. Die Wiederholung und das Eintauchen in die Eigenart des Materials sind zentral.

Sie selber kommen aus den Geisteswissenschaften, das finde ich spannend. Mich interessiert, wie stark das Transdisziplinäre, das Verbinden von Disziplinen gewichtet wird im Lehrgang.

Dieser Aspekt ist uns, wie bei der Zusammensetzung der Student*innengruppen angedeutet, in der Tat sehr wichtig. Ich muss das präzisieren. Ich schätze Handwerker*innen und ihre Fähigkeit mit dem Material und dem Werkzeug kompetent umzugehen. Ich habe aber in nicht wenigen Situationen erlebt, dass Handwerker*innen an ein Gebäude Hand anlegen, von dem sie nicht annähernd wissen, aus welcher Zeit es stammt. Oder es fehlt das Gespür für die Unterscheidung zwischen alten und neu hinzugefügten Elementen. Man muss über die Epoche Bescheid wissen, um solche Spuren lesen zu können. 

An Intelligenz mangelt es diesen Menschen gewiss nicht, man muss ihnen diese Hintergründe einfach näherbringen. Deswegen gibt es bei uns das Fach Kulturgeschichte. Als Pädagoge musste ich aber feststellen, dass ich meinen akademischen Wortschatz ablegen muss – aus mehreren Gründen. Einer besteht darin, dass man das vielfach vorhandene Schisma zwischen den Handwerker*innen und den Intellektuellen nicht durch eine spezifisch akademische Sprache vertiefen darf. Ich bin überzeugt, dass handwerkliche Betätigung anspruchsvoll ist und einem gut tut, ich erlebe das aus eigener Erfahrung so. Aber auch das Schreiben darüber ist wichtig, um umfassend zu verstehen, was möglich ist. Die beiden sollten ineinandergreifen. Dafür ist Kommunikation und perpetuierende Reflexion nötig. 

Zwei Studentinnen bearbeiten Tuffstein. (Foto: Josef Perger)

Funktioniert dieses Heranführen an den gegenseitigen Respekt dieser unterschiedlichen Sphären in der Ausbildung?

Wir sind jedes Mal gespannt auf die neuen Gruppen. Und es hat jedes Mal funktioniert! Es gibt diesen Masterlehrgang erst seit sieben Jahren, aber ich unterrichte schon seit zwanzig Jahren auf diesem eher ungewöhnlichen Gebiet. Der Austausch ist jedes Mal ein Abenteuer, aber fast immer erfolgreich. 

Sie sind ja auch an der ETH Zürich im Rahmen des Projekts »Orte schaffen« am Lehrstuhl von Gion A. Caminada tätig. Können Sie dazu etwas sagen?

Wir arbeiten seit 2005 zusammen. Ich teile mit Gion Caminada viele Überzeugungen. Etwa, dass man Studierende in der Ausbildung nahe an das bringen sollte, an dem sie arbeiten und später arbeiten werden. Das Projekt »Orte schaffen« ist auf Langzeit angelegt. Wir bringen die Studierenden in kleinen Gruppen an den Ort, für den sie etwas entwickeln sollen. Dazu gehören auch Orte, die eine negative Konnotation haben, etwa die ausgefransten Ränder einer Kleinstadt. Diese Unorte zu analysieren scheint uns wichtig, denn viele Menschen verbringen dort einen erheblichen Teil ihrer Zeit. Man kann auch dort Möglichkeiten einer Aufwertung entdecken und dadurch etwas verändern. Gerade das Atmosphärische spielte bei der Planung solcher Orte meist keine Rolle. Die jungen Menschen bringen viele Fähigkeiten mit und sind sehr offen für die Aufwertung von Räumen. Man muss ihre Sinne und das genaue Hinschauen etwas lenken. Das ist unser Ziel. Diese Haltung bringt Gion Caminada ja auch als Architekt in seiner beruflichen Tätigkeit ein.

Gerade angesichts der Klimakrise stellt sich vermehrt auch die Frage nach der Nachhaltigkeit im Bauen. Wird das auch thematisiert?

Ja, das ist ein großes Thema. Wir möchten dieses Problem überhaupt nicht ausblenden. Es wird viel diskutiert, ob man historische Gebäude auf heutige Energiestandards bringen kann und soll. Da gibt es einander manchmal widersprechende Aspekte zu berücksichtigen. Und es gibt unterschiedliche Wege, das anzugehen. Gion Caminada zum Beispiel baut Wohnungen mit unterschiedlichen Temperaturzonen. In der Planungsphase ist es zwar häufig schwierig, das durchzusetzen, beim Wohnen ist die Akzeptanz dann erstaunlich hoch. Wir müssen nicht die ganze Fläche das ganze Jahr über auf der gleichen Temperatur halten. Das ist vor allem in ländlichen Gebieten mit ihren meist großzügigeren Grundrissflächen machbar, aber es geht eben auch in der Stadt, etwa bei Gründerzeitwohnungen. Es gibt Formen der Nutzung, die diesem Thema entgegenkommen. Aber solche Dinge muss man immer im Einzelfall diskutieren und anschauen. Es braucht auch da eine sensible Wahrnehmung. Womit wir wieder beim zentralen Thema unserer Ausbildung sind.

Holzarbeit von Peter Watschinger (Foto: Josef Perger)

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