Schweizer Büro JOM Architekten: »Wenn wir bisher mit dem Hammer arbeiten, ist die Digitalisierung die Nagelpistole«

Elias Baumgarten
18. marzo 2020
Von links nach rechts: Stefan Oeschger, Philippe Jorisch und Michael Metzger (Foto © Anina Lehm)
Philippe Jorisch, Stefan Oeschger und Michael Metzger gründeten 2014 ihr gemeinsames Büro JOM Architekten in Zürich. 2016 gewannen sie den »Foundation Award«, einen wichtigen Schweizer Förderpreis für Nachwuchsarchitekt*innen. Seither haben sie an Wettbewerben Erfahrungen mit BIM (Building Information Modelling) und der digitalen Abgabe ihrer Entwürfe gesammelt. Aktuell befassen sie sich auch mit parametrischen Entwurfsmethoden, die in der Schweiz bis anhin weniger populär sind.

 

Elias Baumgarten 2018 durftet ihr für die werk, bauen + wohnen-Ausgabe »Im Klimawandel« 10 Punkte für eine postfossile Architektur definieren. Deutlich wird, dass ihr euch für drei Themenkomplexe interessiert, die miteinander vielfältig verknüpft sind…

Philippe Jorisch …wir machen uns stark für ein komplett fossilfreies Bauen bis spätestens 2050; wir setzen uns mit der Digitalisierung auseinander – sowohl speziell in Bezug auf die Architektur wie auch als gesamtgesellschaftliches Phänomen. Und wir gestalten viele Umbauten, weil wir für eine langlebige Architektur sind und gegen die immer noch vorherrschende Wegwerfmentalität in der Immobilenwirtschaft.

Gerne möchte ich über diese Punkte mit euch sprechen. Doch der Reihe nach: Verglichen mit vielen anderen Schweizer Büros seid ihr sehr offen für digitale Werkzeuge. Stefan, du hast an der Tagung des BSA (Bund Schweizer Architekten) und der Schweizerischen Zentralstelle für Baurationalisierung (CRB) im vergangenen November über eure Erfahrungen mit BIM berichtet. Obwohl du auch auf Probleme hingewiesen hast, fiel deine Bilanz positiv aus.

Stefan Oeschger Nach unserem Gewinn des »Foundation Award« 2016 hatten wir als Preis unter anderem einen Kurs gut. Wir fanden, wir müssten uns über BIM fortbilden, und ich habe eine Schulung gemacht. Bald darauf wurden wir eingeladen, am BIM-Wettbewerb der Halter AG um die Gestaltung der Bebauung des vanBaerle-Areals in Münchenstein teilzunehmen. Dabei haben wir gelernt, wie verknüpfte Abgaben funktionieren, vor allem aber Informationen aus dem 3D-Modell effizient für uns zu nutzen. Seither wissen wir, wie man mit minimaler Datenbankanbindung am Modell Flächen überprüft und Kennzahlen ermittelt – ohne umständliche Excel-Tabellen. Man kann so viel Zeit sparen. Daher sind wir dieser Methodik treu geblieben – auch wenn wir 2D-Pläne, Modelle und Tabellen abgeben müssen. Wenn wir bisher mit dem Hammer arbeiten, ist die Digitalisierung die Nagelpistole. Jetzt müssen wir sie einzusetzen lernen. Noch sind wohl die meisten mit dem Hammer besser.

Michael Metzger Oft höre ich noch Sätze wie: »Ich steige dann so spät wie möglich ein.« Da kann ich nur schmunzeln! BIM ist einfach ein neues Werkzeug – eines, das sich durchsetzen wird. Also sollte man aus unserer Sicht keine Zeit verlieren und es sich aneignen. Allerdings: Die Digitalisierung der Bauwirtschaft ist ein zweischneidiges Schwert. Sie kann, das sehen wir anhand der Entwicklung in anderen Branchen, zu mehr Standardisierung und somit schlechterer Architektur führen, aber auch zu einer Qualitätssteigerung. Und vielleicht kann sie sogar helfen, einen Beitrag zur Lösung der Herausforderungen unserer Zeit zu leisten.

PJ Also ich kann die verbreiteten Ängste schon verstehen. Bei allem Optimismus birgt BIM auch Gefahren: Das Risiko, dass Architekt*innen weiter marginalisiert werden, besteht durchaus. Und falls wir umgekehrt an Einfluss gewinnen, indem wir eine Koordinationsfunktion übernehmen, stellt sich die Frage nach der Vergütung des Mehraufwands. Überhaupt: Phasenaufwände und Honorare werden sich verändern, wie Stefan Cadosch (Präsident des Schweizerischen Ingenieur- und Architektenvereins) schon vor einiger Zeit gesagt hat. Das sind sensible Themen. Zudem wirft die BIM-Methode Fragen des Urheberrechts und der Haftung auf, die zumindest in der Schweiz noch nicht geklärt sind. 

Neubau einer smarten Wohnsiedlung, Obersiggenthal, Studienauftrag 1. Rang, 2019 (Visualisierung © JOM Architekten)

Bleiben wir zunächst bei der Qualität, die Michael angesprochen hat: An Architekturwettbewerben sollten Ideen und Konzepte im Mittelpunkt stehen. Ich behaupte, durch die Abgabe von BIM-Modellen, die aktuell im ganzen D-A-CH-Raum von Staats wegen wie auch seitens der Entwickler forciert wird, werden stattdessen wirtschaftliche Aspekte noch wichtiger. Schließlich machen die Modelle noch mehr Daten verfügbar. Das ist einer hochstehenden Baukultur nicht zuträglich.

SO Stimme zu, Konkurrenzverfahren sind immer weniger künstlerische Ideenwettbewerbe. Doch kannst du dafür nicht die Digitalisierung verantwortlich machen. Viele Jurys sträuben sich heute sogar gegen digitale Abgaben, wie gewohnt wünschen sie 2D-Pläne und Modelle. Wenn man sich ansieht, was schon heute alles abzuliefern ist, läuft die Entwicklung, die du ansprichst, bereits länger und funktioniert unabhängig vom Einsatz digitaler Werkzeuge. 

PJ Wirklich konsequent wäre eine vollständig digitale Abgabe – keine Pläne und keine Gipsmodelle mehr. 3D-Modelle bieten mehr Transparenz für alle, sie sind leichter zugänglich als Pläne. Unsere Generation steht für mehr Mitsprache und Partizipation statt Stararchitektur – digitale Modelle haben großes Potenzial, sofern man sie richtig einsetzt. Entscheidend ist, dass der Abstraktionsgrad stimmt. Auch ein 3D-Modell soll eine Unschärfe besitzen dürfen – die Frage ist, wie man dies regelt. Hier müssen dringend neue Spielregeln definiert werden. Leider verführt die Arbeit mit BIM dazu, sich viel zu früh mit Details zu beschäftigen. Letztendlich kann kein Computer eine schlüssige Kernidee für ein Projekt generieren. Alle Stakeholder sollten sich zum richtigen Zeitpunkt auf der richtigen Flughöhe über relevante Ideen und weniger über Repräsentationsmethoden von Architektur unterhalten. 

Michael, du hast eben gesagt, die Digitalisierung könne helfen, einen Beitrag zur Lösung der Herausforderungen unserer Zeit zu leisten. Wie meinst du das?

MM Wir brauchen eine postfossile Architektur! Wir glauben, dass zum Beispiel parametrisches Entwerfen helfen kann, attraktive, qualitätsvolle Antworten zu finden. Aktuell haben wir das Problem, dass gerade ältere Architekt*innen beim Themenkomplex Nachhaltigkeit-Sparsamkeit-Umweltschutz alsbald an die Bauten aus der Zeit der Ölkrise denken – mit Graus. Das waren Projekte von hervorragenden Ingenieuren, doch architektonisch hatten sie weniger zu bieten.
Parametrisches Entwerfen ist mit Nichten neu, international arbeiten Büros teils schon seit über zehn Jahren damit; in der Schweiz aber hatten solche Methoden bisher wenig Konjunktur. Das dürfte am verbreiteten intellektuellen Narrativ liegen, dieses Vorgehen erlaube überhaupt erst ein freies Nachdenken über Raum; es ging bisher vor allem um die Genese von Freiformen, eine Architektursprache, die nicht jedermanns Sache ist – die Diskussionen um Shigeru Bans neuen Swatch-Hauptsitz in Biel zeigten das deutlich. Aber das ist eine verkürzte Argumentation. Parametrische Verfahren können auch anders eingesetzt werden. Sie erlauben viel mehr als bloß ästhetische Spielereien.

Wobei man einschränken muss, dass es zum Beispiel den österreichischen Architekt*innen, die Freiformen gestalten, nicht um Spielerei geht. Vielmehr gab und gibt es die Hoffnung, sie würden als Katalysator für eine freiere, kreativere Gesellschaft wirken. 

Umbau des Wohnhauses »Im Wydler«, Kilchberg, 2019 (Foto © Seraina Wirz)
Foto © Seraina Wirz
Links der Zustand vor dem Umbau, rechts danach (Axonometrie © JOM Architekten)

SO Wir interessieren uns für die Parameter! Das Script hilft lediglich, besonders intelligente Lösungen zu finden. Die Grundidee ist uralt: Schon vor Jahrhunderten entstanden Bauten in Abhängigkeit von bestimmten Parametern. Festungsanlagen wie der Schanzengraben in Zürich wurden zum Beispiel oftmals sternförmig angelegt, sodass der Eintrittswinkel feindlicher Projektile möglichst klein ist – Parameter Kanonenkugel. Wir Architekt*innen müssen entscheiden, welche Stellgrößen die Bauten und Städte der Zukunft bestimmen sollen.

Und die wären?

SO Das gesamtgesellschaftliche Ziel muss netto null CO2 über den gesamten Lebenszyklus eines Bauwerks sein! Nachdem wir den Wettbewerb gewonnen haben, sind wir gerade an der Weiterbearbeitung eines Entwurfs für eine smarte Wohnsiedlung in Obersiggenthal, bei welcher der Bauherr – ein regionaler Energieversorger – genau dies fordert. Wir hoffen, dass uns parametrische Methoden künftig erlauben, für solche Aufgaben ansprechende, qualitätsvolle Lösungen zu finden. Zudem haben wir mit neuen Apps die Möglichkeit, unsere Entwürfe rasch auf ihre ökologische Performance zu überprüfen.

PJ In unserer Disziplin wird extrem in die Vergangenheit geschaut. Doch mit der Zukunft haben die meisten Mühe, sie reden kaum darüber. Arrivierte Architekt*innen bewegen sich in ihren Vorträgen gerne in der intellektuellen Komfortzone von Renaissance, den 1960er-Jahren oder der Postmoderne. Das ist absurd! Fehlt der Mut? Ist der Optimismus, die Zukunft lustvoll gestalten zu können, abhandengekommen? 

SO Gut, das mag auch an der Ausbildung liegen, oder eine Flucht sein…

Also sorry, da muss ich eine Lanze für die junge Generation brechen. In unserer Rubik »Bau der Woche« zeigen wir in der Schweiz zumeist Arbeiten jüngerer Architekt*innen. Viele gestalten Umbauten und geben an, dass lokale Wertschöpfung, Nachhaltigkeit und Dauerhaftigkeit für sie wichtige Themen sind. Ein gutes Beispiel ist das Büro Ruumfabrigg. Andere, Zhang Xi beziehungsweise ihr Büro EXH Design zum Beispiel, setzen das Energiekonzept an den Anfang ihrer Planung, um CO2-Emissionen zu verringern und Ressourcen zu sparen.

PJ Da hast du absolut recht, ein weiteres Beispiel ist die Initiative »Countdown 2030«, welche nichts weniger fordert als die komplette Neuerfindung der Moderne. Wir verstehen uns im Diskurs als Kraft innerhalb eines größeren Kollektivs. Wir brauchen einen Paradigmenwechsel! Als Architekt*innen haben wir große Möglichkeiten, zu beeinflussen, wie gebaut wird. Auch nach vorne gerichtete Fragestellungen lassen sich intellektuell, kompositorisch und haptisch in hervorragende Architektur überführen – auch wenn es vielleicht der schwierigere Weg ist und nicht jedes Projekt vollkommen gelingt. 

MM Statt uns in eine formale Rezeption der Vergangenheit zu flüchten, sollten wir Architekturschaffenden wieder einen ganzheitlichen Ansatz verfolgen und aus äußeren Einflüssen entwerferisches Potenzial ableiten.
Die Gesellschaft wird sich in den nächsten Dekaden wesentlich verändern. Die Digitalisierung (und aktuell auch die Corona-Krise, Anmerkung am 11. März 2020) wird die Arbeitswelt radikal umkrempeln. Menschen werden mehr zu Hause sein, hoffentlich mehr teilen und weniger besitzen. Wir fragen uns, welche Räumlichkeiten und architektonischen Konzepte dazu passen. Wird es neue Typologien geben? Wie wird sich das Zusammenleben verändern? Und wie werden wir beispielsweise künftig Mobilität denken? In einigen Jahren werden wir uns wahrscheinlich per App ein Vehikel bestellen, das vielleicht sogar autonom fährt, und kein Auto mehr besitzen. Wir wünschen uns, dass Architektur diesen Veränderungsprozess ein Stück moderieren kann.

SO: Den Sharing-Gedanken versuchen wir schon auf unsere Architektur zu applizieren, zum Beispiel beim angesprochenen Projekt für die Regionalwerke Baden. Die Masse der Projekte, die heute entstehen, denkt diese Entwicklungen nicht konsequent mit – es sind aber aufregende Fragestellungen, die auf uns zu kommen. Als gesellschaftliches Kollektiv haben wir so viel in der Hand! Es ist überhaupt eine der interessantesten Epochen in der Geschichte der Menschheit, um als Architekt*in tätig zu sein. 


Dieses Interview wurde ursprünglich für unser Schweizer Magazin auf Swiss-Architects.com produziert. Es erschien dort am 12. März 2020.


Stefan Oeschger arbeitete bei Peter Zumthor und studierte Architektur an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften in Winterthur. Er absolvierte Auslandssemester in Berlin und London, 2011 war er Mitgründer der Firma BOB Möbel. 2014 gründete er mit Philippe Jorisch und Michael Metzger das Büro JOM Architekten in Zürich. 2016 gewannen sie den Förderpreis »Foundation Award«.

Philippe Jorisch studierte Architektur an der ETH Zürich. Er absolvierte ein Auslandssemester in Delft und nahm an Research-Projekten in São Paulo teil. 2011 war er Redaktor beim Schweizer Magazin trans, von 2015 bis 2017 unterrichtete er als Entwurfsassistent am Lehrstuhl von Professor Dirk Hebel an der ETHZ. Er schreibt über Architektur für die renommierten Schweizer Medien Neue Zürcher Zeitung, archithese, werk, bauen + wohnen sowie für Hochparterre Wettbewerbe.

Auch Michael Metzger studierte Architektur an der ETHZ. 2005 bis 2010 arbeitet er für Graber Pulver Architekten. Er hatte 2005 ein Reisestipendium der Erich Degen Stiftung inne und befasste sich mit der skandinavischen Moderne. 2010 bis 2013 war er selbstständig tätig und kooperierte bereits mit Stefan Oeschger. Zwischen 2011 und 2018 arbeitete er als assoziierter Bewertungsexperte im Bereich Immobilien für Wüest Partner.

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