Kompromisslose Geometrie

Ulf Meyer
6. aprile 2023
Die Kapelle auf dem Penkenjoch im Zillertal wurde 2013 fertiggestellt. (Foto: Enrico Cano)

Mario Bottas Lebensweg ist eine Erfolgsgeschichte: Drei Jahrzehnte brauchte der Schweizer aus dem italienischsprachigen Kanton Tessin, um sich zu einem weltbekannten Architekten zu entwickeln, dessen Werke in Europa, Amerika und Asien von Kolleg*innen, Bauherrschaften und der Öffentlichkeit gleichermaßen geschätzt werden. Am 1. April wurde er 80.

Die einstige Zentrale der Schweizer Großbank UBS in Basel, die heute der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) gehört, die Kathedrale der französischen Stadt Évry, das Museum of Modern Art in San Francisco und die Stadt- und Landesbibliothek in Dortmund, die allesamt in den 1990er-Jahren entstanden, gehören zu Bottas vielleicht bekanntesten Werken. Seine Bauten, die vielfach aus Naturstein und Beton bestehen, zeichnen sich durch eine Beschränkung auf geometrische Grundformen aus. Ihre klaren Formen haben zuweilen fast neo-romanische Qualitäten. 

Mario Botta ist einer der bedeutendsten Vertreter der Tessiner Architektur. Für seinen Heimatkanton und dessen Architekturszene leistete er Großes. Zusammen mit Aurelio Galfetti (1936–2021) gründete er die Accademia di architettura in Mendrisio. Heute zählt sie zu den wichtigsten Architekturschulen Europas und muss sich hinsichtlich der Qualität der Lehre gewiss nicht hinter der traditionsreichen ETH Zürich verstecken.

Die Kirche von Mogno hoch in den Bergen des Südkantons wurde 1996 fertiggestellt. Zu ihrer Entstehungszeit wurde der große Aufwand für den Sakralbau kritisiert. Heute gilt die Anlage als eines der herausragendsten Werke Mario Bottas. (Foto: Enrico Cano)
Mario Botta hat so viele Kirchen geschaffen wie kaum ein zeitgenössischer Architekt sonst. Viele Architekturinteressierte nehmen ihn deswegen zuvorderst als »Kirchenarchitekten« wahr. Die Aufnahme zeigt die Chiesa del Santo Volto (2006) in Turin. (Foto: Enrico Cano)
Prägende Eindrücke: Die Architektur Le Corbusiers und Louis Kahns

Als junger Mann war Mario Botta für Le Corbusier (1887–1965) tätig, der damals ein Krankenhaus in Venedig entwarf. Es blieb das letzte Projekt des Meisters, und auch wenn es nie ausgeführt wurde und Botta Le Corbusier auch nie persönlich begegnet ist, bekam er von dem berühmten Westschweizer Architekten dennoch einen entscheidenden Impuls: Botta entwickelte eine zeitgenössische Variante des Monastischen, eine Architektur, die massiv nach außen und lichterfüllt im Inneren ist. In seinen letzten Lebensjahren schuf Le Corbusier einzigartige spirituelle Bauten wie die bekannte Kapelle von Ronchamp (1955) und das Kloster Sainte-Marie de la Tourette (1960). Botta hat diesen Faden des Erhabenen und Substanziellen in der Architektur weitergesponnen – in seinen zahlreichen Sakralbauten ebenso wie im Weltlichen.

Kein zweiter zeitgenössischer Architekt hat so viele Kirchen gebaut wie Mario Botta. Mehr als ein Dutzend Gotteshäuser in der Schweiz, Italien und Frankreich gehören ebenso zu seinem Portfolio und wie die Cymbalista-Synagoge in Tel Aviv. Botta ist ein gläubiger Mensch und betrachtet das Gestalten von Sakralbauten als einen quasi-religiösen Akt. »Baukunst lehnt sich gegen den Identitätsverlust auf, der der banalen Massenkonsum-Gesellschaft inhärent ist«, sagte er einmal. Architektur ist für Botta deshalb »eher Sujet der Ethik, denn allein der Ästhetik«. 

Wie dieser Anspruch aber beim Bau von Bürohochhäusern, Spielcasinos, Bankpalästen oder Einkaufszentren eingelöst werden kann, darauf blieb Botta immer wieder die Antwort schuldig. Fast wirkt es so, als sei seine »Architektur der Identität« selbst zu einem Markenzeichen geworden, das weltweit geschätzt, wiedererkannt und repliziert wird. Ihre Präsenz, ihr solides, selbstbewusstes Auftreten und das Gespür Bottas für die Kraft des Materials geben seinen Bauten ihren einzigartigen Ausdruck. Die absoluten Wahrheiten, die hinter den platonischen Formen zu stehen scheinen, suggerieren Sicherheit. Bottas beste Bauten schaffen eine Welt in der Welt, in der Ruhe und Harmonie herrschen. Die leichte Raumkunst im Inneren entsteht dabei durch die Schwere der äußeren Körper. 

Das Teatro alla Scala in Mailand wurde zwischen 2001 und 2004 saniert und von 2019 bis 2023 erweitert. (Foto: Enrico Cano)
Teatro alla Scala (Foto: © Emilio Pizzi Team Architects)

Die Auseinandersetzung mit dem Werk Louis Kahns (1901–1974) hat Botta Mut zur reinen Geometrie aus Kreis und Rechteck, Quader und Zylinder sowie zu ihrer Überhöhung ins Monumentale gelehrt. Kahn plante ein Kongresshaus in Venedig, wo Botta bei Carlo Scarpa (1906–1978) Architektur studierte. Doch die Eigenständigkeit und Unverkennbarkeit seines Œuvres entwickelt sich nicht nur aus seiner subtraktiven Art zu entwerfen, sondern auch aus seiner Disziplin, seiner Leidenschaft für die Architektur und seiner Liebe zum Detail.

In die Fassaden seiner geometrisch strengen Kuben und Zylinder schneidet Botta tiefe Fensterschlitze. Tageslicht gelangt häufig von oben in die Interieurs, sodass die meist nur sparsam fenestrierten Gebäude wie übergroße Raum-Gefäße wirken. Die monolithischen Fassaden sind meist mit Schmuckbändern gegliedert. Über Handzeichnungen und Modelle entwickelt Botta stets verschiedene Gestaltvarianten. Die regionalen Gegebenheiten, die Geschichte und die Topografie des Bauortes bieten die Varianz in diesem Kanon. 

Erweiterung des Einkaufszentrums FoxTown, Mendrisio, 2019–2022 (Foto: © Tarchini Group)
Entwicklung im Machen

Geholfen hat Botta bei seinem Aufstieg zweifellos, dass er fortwährend Projekt um Projekt verwirklichte und so seine Konzepte stetig weiterentwickeln konnte. Es zeichnet die Architekten der »Tessiner Schule« wie Mario Botta, Aurelio Galfetti oder Luigi Snozzi aus, dass sie sich nie in wirklichkeitsfernen Theoriegebäuden verirrten, sondern konkret und ohne Unterlass wirkten. Trotz der Studentenunruhen des Jahres 1968, die viele Absolvent*innen an der Richtigkeit des Bauens zweifeln liessen, verließ Botta die Universität im »ungebrochenen Glauben an die Architektur« und gründete ein eigenes Büro in Lugano. Schon seine erste Entwürfe wie die Villa Bianchi in Riva San Vitale (1973) zeigten trotz ihrer kompakten Baukörper eine feine Gestaltung. Anhand der Villen in den Tessiner Bergen entwickelte Botta sein architektonisches Repertoire weiter, und als beginnend in den 1980er-Jahren Aufträge für Schulen, Kirchen, Museen und Verwaltungsgebäude folgten, wusste er die Erfahrungen aus diesen Projekten zu nutzen. So etwa beim Museum Jean Tinguely in Basel (1996) und dem Centre Dürrenmatt in Neuchâtel (2000), die zu seinen bekanntesten Kulturbauten in der Schweiz zählen. Gemeinsam ist ihnen eine reduzierte Formensprache und die Art der Verbindung der Architektur mit der umgebenden Landschaft. Die beiden Bauten fügen sich in ihre Umgebung ein, bleiben aber zugleich doch in einem gewissen Maße Fremdkörper. 

Nicht alle Bauten Bottas werden bejubelt. Sein Spätwerk stößt auch auf Kritik. So etwa die Station (2017) auf dem majestätischen Monte Generoso. (Foto: Enrico Cano)
Tessiner Architektur in Fernost

Längst wenden sich Bauherren aus fernen Metropolen an Mario Botta. Für ihn brachte das neue Herausforderungen mit sich: Beim Entwurf für das Kyobo-Bürohochhaus in Seoul oder das Watari-um-Kunsthaus in Tokio konnte er sich nicht länger auf die Schweizer Planungs- und Handwerksqualität verlassen. Bottas Erfolg in Asien setzte Anfang der 1990er-Jahre mit dem eben erwähnten Watari-um-Kunsthaus ein, einem Privatmuseum für zeitgenössische Kunst in Tokios Ausgehviertel Shibuya. Er bewies mit dem Projekt, dass seine robuste, im Tessin entwickelte Baukunst auch im städtebaulichen Durcheinander der japanischen Megacity bestehen kann und ihre Kraft nicht verliert. Beständigkeit und gediegene Haltbarkeit, die seine Bauten ausstrahlen, verleihen ihnen eine Art Anker-Wirkung im Stadtraum.

Mario Bottas Architektur wird weltweit geschätzt. Dieses Foto zeigt die jüngst realisierte Kirche Nostra Signora del Rosario in Namyang. (Foto: Kim Yongkwan)

Der Kyobo-Büroturm (2003) thront mit seinen 27 Etagen über Seouls Stadtteil Seocho-dong. Wo der Kontext ephemer ist und Bottas Architektur folglich die Anknüpfungspunkte fehlen, verhalten sich seine Bauten zur Stadt wie seine Kirchen zur alpinen Bergwelt. Denn der städtebauliche Kontext in Tokio oder Seoul ist so heterogen, dass eine Bezugnahme geradzu fehlschlagen muss. Die »Firmitas«, die Homogenität und die starken Gesten in Bottas Entwürfen bieten in Asiens Großstädten willkommenen visuellen Halt. 

Die Plastizität, die Ablehnung des Flüchtigen und die sinnlich-taktile Textur, die vom Spiel von Licht und Schatten lebt, geben Bottas Werken von archaischer Einfachheit zeitlose Qualitäten, die Moden lange überdauern werden. Wir gratulieren herzlich zum Geburtstag. 

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