Der Traum von einer Architektur, die sich dem Leben ständig anpasst

Hofrichter-Ritter Architekten
7. oktober 2022
»kiubo 1.0« befindet sich in der Smart City Graz. (Foto: Karl Heinz Putz)
Herr Ritter, worin liegt das Besondere an dieser Bauaufgabe?


Unsere Wohnbauten sind heute noch beinahe so unflexibel wie vor 100 Jahren. Was einmal gebaut wurde, lässt sich nur noch schwer ändern. Doch in einer zunehmend individualisierten, volatilen und mobilen Gesellschaft gestaltet sich die Organisation des Zusammenlebens immer komplexer. Die Anforderungen an Lebensräume und an das Bauen steigen. Einerseits unterliegen Lebens- und Wohnbiografien verstärkt Veränderungen durch wechselnde Wohn- und Arbeitssituationen, wofür das traditionelle Bauen bisher leider nur bedingt attraktive Antworten liefern konnte. Andererseits kamen die bislang entwickelten modularen Bausysteme hinsichtlich der technischen Möglichkeiten, Räume flexibel zu gestalten, an ihre Grenzen; oder sie stießen an rechtliche und finanzielle Schranken. Mit »kiubo 1.0« versuchen wir, für die Anforderungen einer sich stets verändernden Gesellschaft eine Lösung zu entwickeln, die Bezug nimmt auf die historischen Pionierarbeiten der Architekturmoderne.

Einer der Lichthöfe des Komplexes (Foto: Karl Heinz Putz)
Vorgarten (Foto: Karl Heinz Putz)
Welche Inspiration liegt diesem Projekt zugrunde?


Ein zentrales Ideal der modernen Architektur war die vollständige Industrialisierung des Bauens. Spätestens Mitte des 19. Jahrhunderts schien dieser Traum mit der Entwicklung der Präfabrikation und der Montagetechnik sowie der Reduktion der Formensprache, die mit konstruktiven Meilensteinen wie Paxtons Kristallpalast in London (1851) und dem Eifelturm in Paris (1889) einherging, greifbar nahe. Die neuen Materialien Glas, Metall und später auch Beton erlaubten, große Bauten in kurzer Zeit zu errichten. Die neuen Konstruktionsprinzipien ließen visionäre Ideen und Utopien zu. Die Konstruktion der Gebäude erhielt einen enormen Stellenwert. Mit »kiubo 1.0« möchten wir diese Gedanken Realität werden lassen.

Durch runde Aussparungen in den Geschossplatten kann man von den Höfen und Vorgärten gen Himmel blicken. (Foto: Karl Heinz Putz)
Wie hat der Ort auf den Entwurf eingewirkt?


Das Grundstück liegt im Bereich der Smart City Graz, einem Stadtteil im Bezirk Graz-Lend. Das war eine Herausforderung, denn die Ansprüche an die ökologische und soziale Nachhaltigkeit sind dort höher als in der übrigen Stadt. In der Smart City ist bei der Planung sehr stark auf Energieeffizienz, Ressourcenschonung und niedrige Emissionen zu achten. Auch für Wohnen, Arbeiten und Freizeit sowie eine bedarfsgerechte Nahversorgung und den Verkehr sollen zukunftsweisende Konzepte implementiert werden.

Auch Gemeinschaftsräume sind Teil der modularen Anlage. (Foto: Karl Heinz Putz)
Inwiefern haben Bauherrschaft, Auftraggeber oder die späteren Nutzer*innen den Entwurf beeinflusst?


Die Grundidee zu »kiubo« stammt aus dem Jahr 2002. Damals war ich Assistent am Institut für Gebäudelehre und Wohnbau der TU Graz, und Hans Schaffer entwickelte dort als Architekturstudent ein Konzept mit dem Ziel, Architektur mobil zu machen. Er wollte dynamisch nutzbare Strukturen gestalten, die den Menschen dienen und sich mit ihnen entwickeln können. Sein Konzept sah vor, nicht mehr reine Prototypen zu entwerfen, wie sonst in der Architektur üblich ist, sondern standardisierte, seriell produzierbare Einheiten zu bauen, die flexibel nutzbar sind. Inzwischen ist Hans CEO der ÖWG Wohnbau, also von einem der größten gemeinnützigen Wohnbauträger Österreichs. Gemeinsam haben wir das besagte Konzept weiterentwickelt, und nach fast 20 Jahren ist die Idee nun in Form von »kiubo« Wirklichkeit geworden. 

»kiubo« ist ein hybrides System, das den Rohbau vom Ausbau konsequent trennt, Miete und Eigentum in sich vereint und sich anpassen lässt. Die Hauptgebäudestruktur wird durch eine Trägereinheit in Form eines Terminals umgesetzt. Dieses wird so ressourcenschonend wie möglich in Beton- oder Holzskelettbauweise errichtet und ortsspezifisch in den Kontext eingefügt. Das Gebäudesystem vervollständigen vorgefertigte Einheiten in Form einzelner Module. Nutzerinnen und Nutzer erwerben ein oder mehrere Module entsprechend ihren individuellen Anforderungen und mieten einen oder mehrere Plätze im Terminal. Die Strom- und Sanitäranschlüsse werden mittels Plug-and-Play-Prinzip mit dem Terminal verbunden, wodurch die Module nach der Koppelung sofort voll funktionsfähig sind. Durch den hohen Grad an Standardisierung und das einfache Anschlussprinzip können sie jederzeit in einem anderen Terminal oder auch als freistehende Elemente eingesetzt werden – sowohl im urbanen als auch im ländlichen Kontext.

Ein Modul kann dauerhaft oder temporär bewohnt werden. Es kann Arbeitsraum, Betreuungsplatz, Kulturraum oder Restaurant sein. Das flexible Zuschalten weiterer Module oder Freiflächen zu einer bestehenden Einheit ist, sofern diese freilich verfügbar sind, jederzeit möglich. Das Terminal reagiert dynamisch auf wechselnde Bedürfnisse, indem es mannigfache Kombinationen an Modulen aufnimmt und verschiedenste Belegungszustände erlaubt. Simple additive Systeme bis hin zur Entfaltung von komplexen räumlichen Gestaltungen sind denkbar. 

Blick in ein Grundmodul (Foto: Karl Heinz Putz)
Ein als Büro genutztes Modul (Foto: Karl Heinz Putz)
Beeinflussten aktuelle energetische, konstruktive oder gestalterische Tendenzen das Projekt?


Bei »kiubo« sind Konstruktion und Ausbau wie gesagt in das Terminal und die Module getrennt. Der Vorfertigungsgrad liegt bei 90 Prozent. Dadurch verkürzt sich die Bauzeit auf wenige Wochen, und Qualität, Termine und Kosten lassen sich im Voraus exakt bestimmen. Die Module sind so konstruiert, dass sie sich für die Serienproduktion eignen. 

Ich bin der Auffassung, das »kiubo« den Modulbau durch seine Anpassungsfähigkeit an Ort, Zeit und Nutzung revolutionieren wird – und durch die Tatsache, dass wir als Architekten von der städtebaulichen Setzung bis zur Fertigstellung alle Schritte in unserer Hand behalten.

Südansicht des Wohn- und Bürohauses »kiubo 1.0« (Foto: Karl Heinz Putz)
Bauwerk
Wohn- und Bürohaus »kiubo 1.0«
 
Standort
Starhemberggasse 2, 8020 Graz
 
Nutzung
Wohn- und Bürohaus
 
Bauherrschaft
Österreichische Wohnbaugenossenschaft gemeinnützige registrierte Genossenschaft m.b.H., Graz
 
Architektur
Hofrichter-Ritter Architekten ZT GmbH, Graz
Arch. DI Gernot Ritter, Arch. DI Veronika Hofrichter-Ritter, DI Franz Stiegler-Hameter und DI Christian Rauch
 
Fachplaner 
Statik: DI Dr. Peter Mandl ZT GmbH, Graz
Bauphysik: Rosenfelder&Höfler GmbH & Co KG, Graz
HKLS-Planung: TB Pechmann GmbH, Kumberg
Elektroplanung: IB Stengg GmbH, Knittelfeld
 
Bauleitung
Bauherrschaft
 
Jahr der Fertigstellung
2021
 
Maßgeblich beteiligte Unternehmer 
Modulbau: Kulmer Bau GmbH und Kulmer Holz-Leimbau GesmbH, beide Pischelsdorf am Kulm
Betonbau: Ing. Franz Vollmann Baugesellschaft m.b.H., Leibnitz
 
Fotos
Karl Heinz Putz, Graz

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