California Dreamin’

Ulf Meyer
27. março 2020
»Miller House«, Palm Springs, 1936/37 (Foto: David Schreyer, 2017)
»Miller House«, Palm Springs, 1936/37 (Foto: David Schreyer, 2017)

Mit dem kubischen »Lovell Health House« wurde Richard Neutra (1892–1970) 1929 in den USA auf einen Schlag zum Star. Sein Entwurf gilt heute als Geburtsstunde der kalifornischen Moderne. In den Hollywood Hills gelegen, wurde das elegante Haus für den Reformarzt Philip M. Lovell zum Auftakt zu Neutras Karriere. Die gleißend weiße Villa mit ihren ausladenden Dachflächen und Terrassen verband moderne, industrielle gefertigte Elemente mit einer mitteleuropäischen Sensibilität für fließende Räume. Helle, lichte Interieurs und die geschickte Einbettung der Architektur in den umgebenden Garten und die weitere Landschaft schufen reizvolle Kontraste zwischen geometrischen Formen und der Natur. Innen- und Außenräume gingen im »Lovell House« nahtlos ineinander über. »Man stelle den Menschen in eine Verbindung mit der Natur; dort hat er sich entwickelt und dort fühlt er sich zu Hause«, sagte Neutra. Die Architektur der Villa sollte »im Einklang mit der menschlichen Natur stehen« und damit sogar »Krankheiten vorbeugen«. Ob dieser Anspruch eingelöst wurde, ist nicht verbrieft. Doch als erstes Stahl-Rahmen-Gebäude der USA wurde das Haus in einer epochalen Ausstellung im MoMA in New York als »stilprägend« für die Westküsten-Moderne, den International Style in Südkalifornien, tituliert. 

Neutra ließ Autoscheinwerfer ins Treppenhaus einbauen und auch die langen Bandfenster waren ein frühes Beispiel für den raumprägenden Einsatz von Bauteilen, die in der Fabrik gefertigt wurden und der Ausdruck von Transparenz und Hygiene, der von der minimalistischen Detailierung ausging, gefielen dem Bauherrn sehr. Neutra verglich das Verhältnis von Architekt*innen zu ihren Bauherr*innen mit dem zwischen Therapeut und Patient. Neutra wollte seine Auftraggeber stets genau kennenlernen und ihre Wünsche »analysieren«. Dieser Sprachgebrauch kommt nicht von ungefähr: Neutra war mit Ernst Freud, Sohn von Sigmund, befreundet und beschäftigte sich auch als Architekt mit Fragen der Psychologie und Verhaltensforschung. 

»Oyler House«, Lone Pine, 1959 (Foto: David Schreyer, 2017)
»McIntosh House«, Silver Lake, Los Angeles, 1937–39 (Foto: David Schreyer, 2017)

Offene Grundrisse, leichte Konstruktionen und eine enge Beziehung zur umgebenden Landschaft – diese Kombination wurde zum Erfolgsrezept von Neutra, der das Gros seiner rund 300 Bauten in Kalifornien verwirklichen konnte, wo er seit den 1920er-Jahren lebte. Sein Interesse an den Vereinigten Staaten hatte Adolf Loos (1870–1933), Neutras Professor in Wien, geweckt. Speziell die modernen Bautechniken und das Werk von Frank Lloyd Wright (1867–1959) lockten Neutra schließlich über den Atlantik. Nach Stationen in Zürich und Berlin, wo Neutra im Büro von Erich Mendelsohn (1887–1953) arbeitete, reiste er 1923 aus. 

Ein Jahr später traf er in Chicago – beim Begräbnis von Louis Sullivan – sein Idol Frank Lloyd Wright, der Neutra nach Taliesin einlud. Nach einigen Monaten in Wisconsin zog es Neutra »westward, ho!« weiter nach Los Angeles. Er wurde zunächst Mitarbeiter im Architekturbüro seines ehemaligen Wiener Studienkollegen Rudolph Schindler (1887–1953). Die beiden Wiener Emigranten zerstritten sich jedoch bald, nicht zuletzt, weil Neutra so erfolgreich wurde, dass seine Einfamilienhäuser als Modell für das neue Wohnen der weißen Mittelschicht galten. Standardisierung, Vorfertigung und der Einsatz günstiger Baumaterialien machten seine Gebäude auch für breitere Schichten erschwinglich. Die Bedürfnisse der Bewohner*innen erhob Neutra jeweils per Fragebogen, um seine Entwürfe auf sie zuschneiden zu können – eine frühe Form der »mass customization«. Neutras Entwurfssystem machte Vielfalt und Abwechslung möglich. 

»Ohara House«, Silver Lake, Los Angeles, 1961 (Foto: David Schreyer, 2017)
»Ohara House« (Foto: David Schreyer, 2017)

Fünfzig Jahre nach Neutras Tod zeigt das Wien Museum nun das Werk des hierzulande viel zu unbekannten Architekten mit Hilfe von Fotografien von David Schreyer. Die Schau wurde am 13. Februar dieses Jahres eröffnet, momentan aber ist das Museum geschlossen. Neun Wohnhäuser wurden dafür pars pro toto ausgewählt. Die neuen Fotos sind keine aufgeräumten Hochglanzbilder. Schreyer wollte die Architektur im Alltag aufnehmen. Denn für ihn sind die zwischen 1936 und 1966 gebauten Häuser »keine Kunstwerke, sondern Gebrauchsobjekte« und damit gewissermaßen das Gegenteil der berühmten Schwarz-Weiß-Aufnahmen von Julius Shulman (1910–2009) aus den 1950er- und 1960er-Jahren, die unser Bild von Neutras Arbeit bis heute prägen. 

Die meisten für die Wiener Ausstellung ausgewählten Häuser liegen in L.A., genauer im Stadtteil Silver Lake, wo auch Neutra selbst wohnte. Trotz seines enormen Erfolgs in den USA kehrte er in den 1960er-Jahren nach Europa zurück und lebte für drei Jahre in Wien, wo er vor seinem Aufenthalt in den Staaten nur ein einziges Haus verwirklichen konnte – jenes an der Woinovichgasse 9 in der Werkbundsiedlung von 1932. Auch sein zweiter Versuch in der alten Heimat Fuß zu fassen, misslang. Neutra kehrte resigniert nach L.A. zurück. Er starb 1970 bei der Besichtigung des von ihm entworfenen Hauses »Kemper« in Wuppertal.

»Wilkins House«, Pasadena, 1949 (Foto: David Schreyer, 2017)

Viele der Neutra-Häuser in Kalifornien sind heute leider vom Abbruch bedroht, denn die steigenden Grundstückspreise lassen die Bauten unrentabel erscheinen. Obwohl die Bauten schlicht und teils weniger als hundert Quadratmeter groß sind, wirken sie bisweilen ungemein großzügig. Das »Wohnen in der Natur« kompensiert die mangelnde Größe und raffinierte Einbauten minimieren den Bedarf an Möblierung. Die Häuser sind nicht viel mehr als schlanke Rahmen, die sich zur Szenerie hin mutig öffnen und mit ihren »coolen« rechtwinkligen Linien einen Hintergrund für das Leben bieten. 

Die Wiener Schau ist die erste Neutra-Ausstellung seit vierzig Jahren in Europa und richtet Aufmerksamkeit auf das Œuvre von einem der erfolgreichsten Architekten Österreichs. Die neuerliche Wertschätzung ist nur gerecht, nachdem Neutras Weggefährte Schindler schon vor Jahren »wiederentdeckt« wurde. Die erste Retrospektive in Neutras Geburtsstadt ist eine späte Anerkennung für den Vordenker der kalifornischen Moderne. 

Los Angeles Modernism Revisited

Los Angeles Modernism Revisited
David Schreyer, Andreas Nierhaus

235 x 300 Millimeter
256 Páginas
199 Illustrations
ISBN 9783038601609
Park Books
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