Den Diamanten geschliffen – oder: Wie die Sanierung eines Baudenkmals ein Dorf aufblühen lässt

Elias Baumgarten
15. setembro 2022
In den 1950er-Jahren wurden die historischen Fassaden des Komplexes zerstört. Mit der Sanierung erhielt der nördliche Gebäudeteil sein barockes, der südliche sein gotisches Erscheinungsbild wieder. (Foto: Hanspeter Schiess)

Dieser Beitrag wurde aus der Artikelserie »Gutes Bauen Ostschweiz« übernommen, die seit September dieses Jahres bei unserem Schweizer Partnermagazin auf swiss-architects.com ein neues Zuhause erhalten hat und dort in einer eigenen Rubrik erscheint. Mit dem Format leistet das Architektur Forum Ostschweiz seit 2011 einen wichtigen Beitrag zur Architekturvermittlung. In den Beiträgen werden Bauten, Landschafts- und Ortsplanungen in den Schweizer Kantonen Schaffhausen, Thurgau, St. Gallen, beider Appenzell, Glarus, Graubünden sowie im Fürstentum Liechtenstein besprochen, aber auch drängende Zukunftsthemen. Dies soll zu einer lebendigen Debatte um die Baukultur beitragen, zu der nicht nur Expert*innen, sondern alle eingeladen sind.
 
Die bisher publizierten Artikel finden Sie in zwei Bänden, die beim Schweizer Verlag Triest erschienen sind: »Raum. Zeit. Kultur« und »Stadt und Landschaft denken«.
 
Das Format wird getragen vom Bund Schweizer Architektinnen und Architekten (BSA), dem Bund Schweizer LandschaftsarchitektInnen (BSLA), dem Verband freierwerbender Schweizer Architekten (fsai), dem Schweizerischen Ingenieur- und Architektenverein (SIA), Swiss Engineering (STV) und dem Schweizerischen Werkbund (SWB) sowie von den Ostschweizer Kantonen und dem Fürstentum Liechtenstein.

Die »Beuge« vor der Sanierung (Foto: Volker Marterer)

Die Fassaden heruntergekommen und vom Verkehr verdreckt, die meisten Fensterläden und Storen zugezogen, auf dem kleinen Vorplatz Gestrüpp – als die Genossenschaft Alterswohnungen Linth (GAW) die Liegenschaft »Beuge« 2013 kaufte, deutete wenig darauf hin, welch Juwel sie erworben hatte. Und so war zunächst angedacht, die beiden miteinander verbundenen Häuser, das »Hauserhaus« im Süden und die »Beuge« im Norden, abzubrechen. Doch dann zeigte eine dendrochronologische Holzaltersbestimmung, dass die Anlage auf zwei gotische Wohntürme aus dem Jahr 1415 zurückgeht. Diese entstanden infolge der Schlacht bei Näfels von 1388 (die letzte große Auseinandersetzung zwischen Habsburgern und den Eidgenossen). Erhaltene Schießscharten zeugen noch von ihrem wehrhaften Charakter. Die »Beuge« erzählt die Geschichte von Näfels und des ganzen Glarnerlands, wie weitere Untersuchungen zeigen sollten: Mitte des 16. Jahrhunderts wurde um den nördlichen Turm, von dem bis heute drei Etagen erhalten sind, ein dreigeschossiges Wohnhaus gebaut. In den Jahren 1564 und 1565 entstand auch um den anderen Turm, von dem noch zwei Stockwerke vorhanden sind, ein Wohnhaus. Einige Dekaden später wurde das südliche Haus vergrößert und aufgestockt. In den Häusern wohnten reiche Patrizierfamilien, die zur Glarner Oberschicht gehörten. Die Bauten waren wichtige Orte des gesellschaftlichen Lebens. Im 17. Jahrhundert verband man sie miteinander, und das nördliche Haus erhielt eine Fassade im Stil des Barock. Während die historischen Fassaden in den 1950er-Jahren achtlos heruntergeschlagen wurden, blieb die wertvolle Substanz im Inneren, unter neueren Einbauten verborgen, bewahrt.

Die Ferienwohnung im Haus wartet mit einer gotischen Stube samt historischem Ofen auf. (Foto: Hanspeter Schiess)
Alle Wohnungen verfügen über neue Küchen und Bäder, um heutigen Komfortansprüchen zu genügen. (Foto: Hanspeter Schiess)
Neben alters- und invalidengerechten Wohnungen sind auch Büros und Besprechungszimmer in dem Baudenkmal eingerichtet. In allen Räumen ist historische Bausubstanz sichtbar. (Foto: Hanspeter Schiess)
Alterswohnungen in einem Denkmalobjekt – eine utopische Idee?

Doch das Wissen um die geschichtliche Bedeutung stellte auch eine Herausforderung dar. Denn wie sollten 12 alters- und invalidengerechte Wohnungen sowie Gewerbeflächen in einem Baudenkmal Platz finden, das von einmaligem historischem Wert ist? Wie sollte man dabei heutigen Normen gerecht werden, etwa zum Brand- und Lärmschutz, und zeitgenössische Komfortansprüche befriedigen? Nachdem unter anderem das Zürcher Büro ruggero tropeano architekten im Auftrag der Denkmalpflege bereits eine Studie zur Nutzung der Häuser ausgearbeitet hatte, wurde 2018 Volker Marterer (DOM, Chur und Mollis) mit einer weiteren Konzeptstudie beauftragt. Sein Umbau des spätmittelalterlichen »Zwickyhauses« im benachbarten Mollis (2016–2018) hatte die Verantwortlichen der GAW überzeugt.

Marterers Konzept sah vor, die historische Substanz herauszuschälen und den barocken Charakter der Innenräume wiederherzustellen. Dafür wurden die Ein- und Anbauten aus dem 20. Jahrhundert entfernt. Äußerlich erhielt der südliche Gebäudeteil den Charakter der Spätgotik zurück, der nördliche jenen der beginnenden Renaissance. Bei der Wiederherstellung der Fassade kam ein spezieller Dämmputz zum Einsatz. Die Fenster zur stark befahrenen und lauten Hauptstraße erhielten eine Fünffachverglasung. Zentrales Element der Sanierung ist ein schmuckvolles Treppenhaus mit Liftanlage im Verbindungsbau. Es erschließt alle Wohnungen und Nebenräume in den unterschiedlich hohen Geschossen barrierefrei. Auf der Gebäuderückseite wurden die Aborttürme durch gedeckte Terrassen und Loggien ersetzt.

Die neue Treppenanlage im Verbindungsbau passt mit ihren schmuckvollen Staketen und ihrer handwerklich präzisen Umsetzung gut zum Bestand, ist jedoch unmittelbar als neues Element erkennbar. Der Kontrast zwischen dem hellen Erschließungsraum und den Wohnungen lässt Letztere noch mehr als behagliche Rückzugsorte erscheinen. (Foto: Hanspeter Schiess)

Im Erdgeschoss wurde neben Gewerberäumen ein öffentliches Café mit Bäckereiverkauf eingerichtet. Eine Etage höher befinden sich Gemeinschaftsräume und Büros in den wertvollen gotischen Stuben. Zudem bietet die Stiftung Ferien im Baudenkmal, die 2005 vom Schweizer Heimatschutz gegründet wurde, eine Ferienwohnung im Haus an, und auf eine Gästewohnung im Dachgeschoss können alle Parteien zugreifen. Vor dem Haus ist ein kleiner Platz entstanden, aufgewertet durch einen historischen Brunnen, der aus Glarus Süd stammt.

Die Aborttürme auf der Gebäuderückseite wurden abgebrochen. An ihrer Stelle sind gedeckte Terrassen und Loggien entstanden. Im Vordergrund ist die sonnige Gartenterrasse des Cafés zu sehen. (Foto: Hanspeter Schiess)
Die Rückseite des Komplexes vor dem Umbau (Foto: Volker Marterer)
Räumliche Komplexität und atmosphärischer Reichtum

Alle Wohnungen sind mit neuen Bädern und Küchen zeitgemäß ausgestattet und weitestgehend barrierefrei. In jeder ist historische Bausubstanz sichtbar. So finden sich beispielsweise barocke Deckenverkleidungen, gotische Bohlendecken und fein gearbeitete Halbsteinsäulen. Die Oberflächen scheinen unzählige Geschichten zu erzählen, sie laden zum Spurenlesen ein und beflügeln die Fantasie. Weil die Anlage über die Zeit immer wieder umgestaltet wurde, ist ihre räumliche Struktur komplex und vielfältig, man kann sich im besten Sinne in ihr verlieren. Gerade in den Wohnungen unter dem Dach erzeugen zuweilen schiefe Wände und Böden, unerwartete Öffnungen und Durchblicke eine labyrinthische Raumfolge. Das Haus eröffnet im Inneren eine eigene Welt, losgelöst von der Umgebung, die Geborgenheit vermittelt. Faszinierend ist, wie ausgeprägt jede Wohnung, jedes Büro- und jeder Geschäftsraum eine eigene Atmosphäre hat, einen eigenen Charakter, ja einen eigenen Geruch verströmt.

Im Dachgeschoss wurde eine Gästewohnung eingebaut, die alle Parteien bei Bedarf mieten können. (Foto: Hanspeter Schiess)
Die Wohnungen unter dem Dach bieten eine labyrinthische Raumstruktur, die man mit Freude immer wieder neu erkunden möchte. (Foto: Hanspeter Schiess)
Die Dächer wurden saniert und energetisch nachgerüstet. (Foto: Hanspeter Schiess)
Ein Haus für die Dorfgemeinschaft

Durch Näfels wälzt sich täglich eine Blechlawine. Pendler, Touristen und Lkw sorgen für ein extremes Verkehrsaufkommen. Die Lärmbelastung ist hoch, die Fahrzeuge hinterlassen auf den Fassaden der Häuser dicke Feinstaubschichten. Die Gemeinde ist ein Durchgangsort. Und das prägt die Menschen: Viele halten ihr Dorf für unschön. Doch mit der Sanierung der »Beuge« hat sich das verändert. Das prächtige Bauwerk macht sie stolz. Seit der Fertigstellung ist das Interesse enorm: Am Tag der offenen Tür war der Andrang riesig, und auch Monate später bleiben immer wieder Passanten vor dem Haus stehen, staunen, nehmen es von allen Seiten in Augenschein. Erfolgreich ist auch das Café im Erdgeschoss, das gerade von Einheimischen sehr gut angenommen wird. Es trägt wesentlich dazu bei, den städtischen Raum rings um das Baudenkmal wiederzubeleben. Manche mögen relativieren, für die Sanierung sei ein außergewöhnlicher Aufwand betrieben worden – die Genossenschaft konnte dank Gönnern und der öffentlichen Hand viele Millionen Franken in das Projekt stecken, in Planung und Umsetzung wurden besonders viel Zeit und Leidenschaft investiert. Freilich, nicht immer ist das möglich. Doch der Umbau beweist, wie vielfältig und kreativ Baudenkmäler weitergenutzt werden können. Und vor allem zeigt er, welche Kraft Architektur entfalten kann, wenn die Qualitäten des Bestands und sein geschichtlicher Wert erkannt und mit Fingerspitzengefühl und Gestaltungswille herausgearbeitet werden. Es macht Hoffnung, dass sie selbst Menschen zu berühren vermag, die sich vormals kaum für die Gestaltung ihrer gebauten Umwelt und den Erhalt gewachsener historischer Bausubstanz interessierten.

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