Wolf D. Prix: »Die Gesellschaft, die wir uns erträumt haben, ist nicht zustande gekommen. Stattdessen erleben wir einen großen Backlash«

Elias Baumgarten
9. outubro 2020
Foto © Zwefo


Herr Prix, als junger Architekt haben Sie mit Helmut Swiczinsky und Michael Holzer der Architekturszene Dampf gemacht. Mit Ihren Experimenten, Ihren visionären Gestaltungen und Ihrer angriffslustigen Rhetorik wurden Sie berühmt. Wie kam es dazu? 

Rudi Dutschke hat einmal gesagt, nicht wir müssten uns ändern, sondern die Gesellschaft müsse sich verändern, damit wir in ihr leben können. Das war der Ausgangspunkt für unsere Überlegungen: Wir wollten eine Architektur machen, die sich den Menschen anpasst, nicht umgekehrt – eine Architektur leicht und veränderbar wie Wolken eben. Wir haben uns gegen die kalten, unmenschlichen, funktionalistischen Gestaltungen der 1950er-Jahre gewehrt. Sehr polemisch wandten wir uns gegen die älteren Architekten und ihre unsägliche Erfüllungsgehilfen-Haltung. ›Architektur ist nicht Anpassung‹, haben wir geschrieben. Wir haben wirklich fest daran geglaubt, mit Architektur die Gesellschaft verändern zu können.

Sie haben daran geglaubt? Dann war alles umsonst?

Schauen Sie sich doch um: Vieles ist heute sogar schlimmer als in den 1970er-Jahren. Gesellschaftlich hat meine Generation sicher verloren. Was wir uns einst erträumt haben, ist nicht eingetreten. Stattdessen erleben wir gerade einen großen Backlash. Eine konservative Architektursprache ist mehr denn je gefragt. Viele flüchten sich in eine verklärte Vergangenheit und bauen Biedermeier. Überall entstehen Kisten mit Schießscharten und Scheunenarchitekturen. Das ist für mich ein Alarmzeichen. Und da passt ins Bild, dass auch die angesprochene Erfüllungsgehilfen-Haltung und der vorauseilende Gehorsam der Architekten ungebrochen intakt sind. Ich kritisiere niemanden, der Aufträge auch von fragwürdigen Bauherren annimmt, um Geld zu verdienen und ein gutes Auskommen zu haben – da würde ich mich ja selber unglaubwürdig machen, schließlich arbeiten wir unter anderem erfolgreich in China. Aber seine langweiligen Investorenprojekte als die Zukunft der Architektur hinzustellen oder in China chinesischer zu bauen als die Chinesen selber, das finde ich obszön, da werde ich ärgerlich.
Wahrscheinlich klinge ich jetzt für jemanden Ihrer Generation sehr negativ. Es ist nicht alles schlecht: Wir haben doch geschafft, mit unseren Bauten Freiräume aufzuspannen und besondere Raumerlebnisse zu bieten. Es gibt noch Hoffnung, dass junge Architekturschaffende nachkommen, die weiter an Lösungen arbeiten, die ein friedlicheres, freieres und fantasievolleres Leben garantieren. Vielleicht sind wir einer Fehleinschätzung hinsichtlich der Robustheit der Strukturen aufgesessen, und es braucht mehrere Generationen, um nachhaltige Veränderungen durchzusetzen.

Villa Rosa, 1968 (Foto © Coop Himmelb(l)au)

Was meinen Sie denn mit konservativer Architektursprache? Viele junge Architekturschaffende hier in der Schweiz interessieren sich für das Handwerk, für lokale Bautraditionen und -geschichte. Bisweilen verbindet sich das mit einem klaren Bewusstsein für Probleme wie die Klimakrise oder die Zersiedelung. Sie setzen sich für das Weiterbauen, für regionale Wertschöpfung und die Verwendung einheimischer Materialien ein. Das kann Sie doch kaum stören. Geht es Ihnen bei Ihrer Kritik vielmehr um Architekturen wie etwa die Zentrale des Bundesnachrichtendienstes (BND) in Berlin von Kleihues + Kleihues?

Grauenhaft! Das Ding ist Ausdruck der Haltung, die im Inneren herrscht. Schade um die ganzen Steuergelder; der BND hätte gleich in eine Kaserne ziehen können. Der Neoklassizismus entspringt einer typisch bourgeoisen, reaktionären Haltung. Er ist Ausdruck von Mutlosigkeit und die Architektursprache derer, die sich nichts trauen! 
Der von Ihnen beschriebenen Entwicklung stehe ich kritisch gegenüber. Ich fürchte, unter dem Deckmantel der Ökologie und der Ökonomie schleifen sich ganz konservative Haltungen ein. Regionale Wertschöpfung und die Verwendung einheimischer Materialien sind zwar zum Beispiel nicht verkehrt, das Ganze kann aber schnell in eine rechte, nationalistische Position kippen. Darum ist wichtig, dass (junge) Architektinnen nicht unreflektiert etwas übernehmen oder ausführen. Sie müssen verstehen, dass Architektur eine umfassende politische, soziale, kulturelle und ökonomische Implikation hat.

Sie und viele Ihrer Zeitgenossen waren gerade als junge Architekten sehr engagiert. Sie haben allein aus politischem, sozialem und architektonischem Interesse Projekte entwickelt, ohne konkreten Auftrag, ohne Aussicht auf ein Honorar oder wenigstens eine große Publikation. Wieso gibt es diese Art von Einsatz heute weniger? 

Die heutige Generation ist ein bisschen verwöhnt, neuerdings wird immerzu von Work-Life-Balance gesprochen. Wie mich dieses Wort aufregt! Sowas kannten wir in den 1970er-Jahren gar nicht. Es gibt in der Architektur verdammt nochmal keine Freizeit. Wer Architekt wird, nur um reich zu werden, der hat den Beruf verfehlt. 
Es geht der Jugend heute materiell so gut wie vielleicht niemals zuvor. Und das ist ein Problem: Keiner will sein Wohlergehen aufs Spiel setzten und sich exponieren, selbst, wenn wir darüber unsere Freiheit verlieren. Lassen Sie es mich so sagen: Typen wie Trump, Orbán oder Erdoğan, wie unsere türkisen Regierungspolitiker in Österreich – die 68er hätten deren Treiben nicht zugeschaut, sie wären sofort auf die Straße gegangen. Erinnern Sie sich an den Prager Frühling – die jungen Leute sind aufgestanden und haben dabei enorme persönliche Risiken auf sich genommen. Das sehe ich heute im Westen nicht mehr.

Werner Binotto, ehemaliger Kantonsbaumeister von St.Gallen, hat mir kürzlich gesagt, wir müssten als Gesellschaft scheitern, bevor sich wirklich etwas verändert.

Das ist natürlich ein extrem pessimistischer Blick in die Zukunft, doch leider muss ich fast zustimmen. Wir fordern zum Beispiel schon seit Jahren, dass man keine nach Süden orientierten Wohnungen mehr machen soll, weil das aufgrund der Erderwärmung in fünf bis zehn Jahren Kentucky-Fried-Chicken-Wohnungen sein werden. Doch Bauherren, Investoren und Architektinnen bauen sie ungerührt weiter, so als ob nichts wäre. Neulich hat mir ein Systemtheoretiker gesagt, der Leidensdruck sei nicht hoch genug – eine extrem böse, aber treffende Kritik. Es ist traurig, dass wir in einer Gesellschaft leben, die erst leiden muss, ehe sie sich ändert. Welch ein Versagen der heutigen Politik.

Europäische Zentralbank (EZB), Frankfurt am Main, 2003–2014 (Foto: Robert Metsch, EZB, Coop Himmelb(l)au)

Wie kann man dafür sorgen, dass wieder mehr einfallsreiche, visionäre Ideen entwickelt werden?

Theoretiker, Kuratorinnen und Kunsthistoriker gehören mindestens für die nächsten fünf Jahre aus unseren Architekturschulen verbannt. Sie verderben den jungen Architektinnen das Denkvermögen im Hinblick auf die Imagination einer neuen Gesellschaft und neuer Formen für diese.

Meinen Sie das ernst? Aus Ihrem Mund überrascht mich das. Sie sind ein sehr gebildeter Mensch, beschäftigen sich mit Philosophie und Politik, Kunst und Musik, immer wieder zitieren Sie Jacques Derrida, Walter Benjamin oder auch Marshall McLuhan.

Das ist doch etwas Anderes. Heute haben wir es mit einem Rückzug in die Theorie zu tun, der die Entwicklung einfallsreicher, innovativer Lösungen hemmt, statt sie zu stimulierten. Das intellektuelle Klima in den 1960er-Jahren war anders, ich denke manchmal, wir hatten es deshalb leichter. Unser Nährboden war sehr ergiebig: Wir hatten, wie Sie richtig sagen, ein Backing aus der Musik, der Politik und der Philosophie. Ich hatte einige tolle Lehrer, die die Auseinandersetzung damit angestoßen und mein Interesse für diese Dinge geweckt haben. Informationen waren damals viel schwerer zugänglich. Es gab kein Internet. Das hatte Vorteile: Wir haben viel gelesen und uns mit dem Futter, das wir bekamen, sehr vertieft auseinandergesetzt. Der Diskurs war viel weniger oberflächlich. 

Kritisieren ist einfach. Was müsste an den Architekturschulen vermittelt werden?

Kritisches und reflektiertes Denken! Ich habe meine Kinder dazu ermutigt, den Mund aufzumachen, wann immer sie etwas zu sagen haben. Das müssen auch die Universitäten leisten: Junge Architekten dürfen sich, das habe ich eben schon gesagt, nicht länger unreflektiert verhalten und müssen sich wieder etwas trauen. Ich wünsche mir, dass sie ihren vorauseilenden Gehorsam ablegen.

Museum of Contemporary Art & Planning Exhibition (MOCAPE), Shenzhen, China, 2007–2016 (Foto: Duccio Malagamba, Coop Himmelb(l)au)

Worin sehen sie die größte Herausforderung, die wir in den nächsten Jahren zu meistern haben?

Ich frage mich im Augenblick vor allem, wie die Architektur nach der Corona-Pandemie aussehen wird. Wird es einen tiefgreifenden Wandel geben, oder geht alles weiter wie gehabt, sobald ein Impfstoff einsatzbereit ist? Wie sollen wir künftig Plätze gestalten, wie müsste sich der soziale Wohnbau verändern, damit wir für Situationen wie die jetzige besser gerüstet sind? Dazu werde ich, das kündige ich hiermit offiziell an, demnächst einen wöchentlichen Blog auf Twitter schreiben – was Herr Präsident Trump kann, kann ich längst!

Viele sagen, die Corona-Pandemie werde unsere Arbeitswelt verändern. Stärker aber noch wird das wohl die Digitalisierung.

Das ist ein wichtiger Punkt. Gerade der Bauwirtschaft, die bisher ein Nachzügler war, stehen drastische Veränderungen bevor, die nicht nur ökonomische, sondern vor allem auch soziale Konsequenzen haben werden. Wir haben in China bereits erfolgreich Roboter eingesetzt – in der Vorfertigung wie auch auf der Baustelle. Das spart viel Zeit und Arbeitskräfte, große Vorhaben lassen sich viel ökonomischer umsetzen – also wird sich das durchsetzen. Wir haben in Österreich zwei Forschungsanträge geschrieben, einer befasste sich explizit mit den gesellschaftlichen Folgen der Digitalisierung der Bauwirtschaft. Beide wurden abgelehnt. Das ist tragisch. Wenn die europäische Bauindustrie und Politik die Entwicklung verschlafen, droht uns ein böses Erwachen.

Dass wir in Europa mittlerweile hinterherhinken, trifft ja leider auch für andere Branchen zu …

… die deutsche Automobilindustrie zum Beispiel hat sich von Tesla und anderen E-Autobauern abhängen lassen. Ich möchte mir nicht ausmalen, welche wirtschaftlichen und sozialen Folgen das für Deutschland und Europa in den nächsten Jahren haben könnte. Dabei wäre der sich anbahnende Erfolg der Elektromobilität schon lange abzusehen gewesen. Doch man unterließ die Entwicklung neuer Technologien mit Verweis auf die Kosten. Das sei zu teuer, hieß es. Wie ich dieses Argument hasse! Die ganze Misere nur für einen kurzfristigen Profit der Aktionäre. Wir müssen endlich begreifen, dass Nachhaltigkeit drei Säulen hat: die ökologische, die ökonomische und die sozialkulturelle.

Vielen Dank, Herr Prix, für das interessante Gespräch. Ich hoffe, dass sich viele (junge) Architekturschaffende durch Ihre Worte angespornt und ermutigt fühlen.

Wolf D. Prix hat an der TU Wien, der AA in London und dem Southern California Institute of Architecture (SCI-Arc) Architektur studiert. 1968 war er Mitbegründer von Coop Himmelb(l)au. 2006 verantwortete er als Kommissär Österreichs Beitrag zur 10. Architekturbiennale von Venedig. Er hatte Gastprofessuren an der AA und der Harvard University in Cambridge inne. 1985 bis 1995 war er Adjunct Professor am SCI-Arc. 1993 wurde er als ordentlicher Professor an die Universität für angewandte Kunst nach Wien berufen, wo er zwischen 2003 und 2012 Vorstand am Institut für Architektur, Leiter des Studio Prix und Vizerektor der Hochschule war. Prix erhielt für seine Arbeit zahlreiche Preise und Auszeichnungen, darunter der Große Österreichische Staatspreis.

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