Zirkuläres Bauen leicht gemacht

Susanna Koeberle
9. fevereiro 2023
Catherine De Wolf forscht auf unterschiedlichen Gebieten und unterrichtet an der ETH Zürich. (Foto: Paul Barendregt)

Frau De Wolf, Sie arbeiten in ganz unterschiedlichen Feldern. Sie unterrichten, forschen, bauen und filmen – und das ist nur eine Kurzversion Ihrer Arbeit. Glauben Sie, dass diese Form der Transdisziplinarität in Zukunft auch in der Architektur zur Normalität werden wird?

Ich selbst habe gleichzeitig Architektur und Ingenieurwissenschaften studiert und habe diese Disziplinen stets zusammen gedacht. Heute stelle ich fest, dass wir in vielen Bereichen immer mehr in Richtung Multidisziplinarität und Interdisziplinarität gehen. Eigentlich gab es dieses Konzept schon länger, etwa in der Renaissance. Doch mit dem Zuwachs an Wissen kam auch die Spezialisierung. Das ist nicht per se schlecht, denn es hat die Wissenschaft vorwärtsgebracht. 

Aber um den heutigen ökologischen Herausforderungen zu begegnen, müssen wir die Disziplinen wieder miteinander verbinden. Wir können den massiven Auswirkungen der Bauindustrie auf die Umwelt nicht mit Architektur allein beikommen. Ich habe mich zwar auf bestimmte Domänen spezialisiert, bin aber ebenso in anderen Disziplinen tätig und arbeite dort mit Spezialist*innen zusammen. Diese Form der transdisziplinären Arbeit ist für mich sehr wichtig, gerade im Hinblick auf die Probleme, die ich zu lösen versuche.

Den Übergang zu einer zirkulären Bauweise könnte man auch philosophisch betrachten. Das abendländische Denken ist bekanntlich geprägt durch die Idee der Linearität, also des Fortschritts. Geht es für Sie bei der Zirkularität auch um ein Neukalibrieren von Gewohnheiten und Denkweisen?

Diese Frage bringt uns zu Ihrer ersten zurück. Ich mag es, von der Geschichte und der Vergangenheit zu lernen. Schon im alten Rom wurde zirkulär gebaut, die Wiederverwendung von Materialien war früher Common sense. Die Rohstoffe waren teuer, denn sie standen nicht in dem Maße zur Verfügung wie heute, da man sie am anderen Ende der Welt holt. Das System von Extraktion, Produktion und Entsorgung entstand in seiner extremen Ausprägung vor rund 100 Jahren, als auch die Bodenpreise stiegen. Man begann, alte Bauten abzureißen und neue, größere zu bauen. In meiner Forschung versuche ich nicht nur, von der Natur zu lernen, sondern auch von der Geschichte. Denn gewisse Denkweisen gingen vergessen.

Mir scheint, dieses Denken prägt uns schon länger. Dazu gehört auch, dass wir die Natur als Gegenpol zu uns betrachten, obwohl wir Teil von ihr sind.

Ja, zum Beispiel sprechen wir von gebauter Umwelt und meinen damit, was der Mensch geschaffen hat, dabei ist die Natur in ständiger Interaktion mit uns. Das Problem ist auch, dass wir in unserem Alltag viele Gewohnheiten haben, über die wir gar nicht nachdenken, etwa das Wegwerfen von Plastik. Bevor es diese Produkte gab – und das ist gar nicht lange her – ging man mit dem Behälter einkaufen. Die Wegwerfmentalität ist auch ein kulturelles und soziologisches Problem. Zum Glück ändert sich das jetzt. Meine Studierenden fordern von uns Professor*innen, noch weiter zu gehen.

Lernen von anderen Kulturen: der berühmte Ise-Schrein in Japan (Foto: Guy Nordenson)

Haben Sie ein konkretes Beispiel aus der Praxis?

Wir haben auf dem Campus der ETH ein Gebäude zerlegt, dessen Material man danach entsorgen wollte. Es waren die Studierenden, die sich dafür eingesetzt haben, die Bauteile zu behalten. Ohne ihren Druck wäre das nicht möglich gewesen. Die junge Generation zieht uns für unsere Handlungen zur Rechenschaft.

Ich würde gerne auch über Ihre Forschung sprechen. In diesem Zusammenhang taucht häufig die Begrifflichkeit »digital technologies and innovations« auf. Es kommen ganz neue Werkzeuge zum Einsatz, etwa künstliche Intelligenz, Robotik, Virtual Reality oder Fotogrammetrie. Können Sie dazu etwas sagen?

Ich habe eben davon gesprochen, wie mich die Vergangenheit inspiriert. Nun wissen wir seit den 1980er-Jahren von den ökologischen Herausforderungen, getan haben wir aber nichts oder nur wenig. In den letzten zehn Jahren gab es große technologische Fortschritte im Digitalen, die es in meinen Augen besser zu nutzen gilt. Wir können von den Leuten nicht verlangen, die Zeit zurückzudrehen und so zu bauen wie früher. Aber wir können die neuen Technologien dafür einsetzen, die zirkuläre Ökonomie schneller und einfacher zu machen. 

Ein Beispiel aus meiner Forschung: Dank Google Street View haben wir Zugang zu Daten von allen Fassaden. Algorithmen können Materialien erkennen und Informationen dazu direkt an uns weitergeben. Ich denke, das Potenzial ist dort riesig. Oder ich frage mich, wie man bei gefährlichen Abbruchmanövern Roboter einsetzen könnte. Wir befinden uns bei all diesen Technologien in einem frühen Stadium, es sind zurzeit eher Visionen. Deswegen forsche ich ja.

Praktisch gesprochen wäre eine App denkbar, die mir Informationen vermittelt zu Bauteilen, die ich suche?

Genau, eine Art Matchmaking oder ein »Tinder for Re-use«. Ich bin zurzeit daran, das zusammen mit Re-use-Akteur*innen aus dem In- und Ausland zu entwickeln.

Zusammen mit den Studierenden wurde ein Musikpavillon zerlegt. Auf ihren Druck hin wurden die Bauteile nicht einfach entsorgt. (Foto: © ETH Zürich, Chair of Circular Engineering for Architecture)

Sie haben die Antwort vorhin bereits angetönt: Denken Sie, dass an den Universitäten eine junge Generation von Architekt*innen mit neuen Werten heranwächst? Oder herrscht immer noch die Idee des Genies vor, das Bauikonen produziert?

Es ist unsere Aufgabe, den Studierenden einen Weg in der Architektur aufzuzeigen, der nützlich für die Gesellschaft ist. Ich unterrichte seit fast zehn Jahren und bekam von den Studierenden häufig zu hören, dies sei ihr erster Kurs auf dem Gebiet der Lebenszyklusanalyse oder des zirkulären Bauens. Angesichts der Rolle der Bauindustrie bei der Klimakrise fand ich es merkwürdig, dass dieser Kurs fakultativ war. Ich bin der Meinung, diese Kurse müssten obligatorisch sein! Wir haben aber zurzeit noch nicht genügend Professor*innen auf diesem Gebiet. Die wachsende Nachfrage kommt von den Studierenden, das stimmt mich zuversichtlich. Ich beobachte zudem bei Studienabgänger*innen eine viel kritischere und forderndere Haltung ihrer zukünftigen Arbeit gegenüber. Das war zu meiner Studienzeit noch nicht so.

Bei Materialien spricht man heute vermehrt von grauer Energie. Welche Rolle spielt die Wahl der Materialien? Und was sind die großen Herausforderungen diesbezüglich? 

Ich werde häufig gefragt, was die besten Materialien seien. Doch man muss Baustoffe je nach der gewünschten Funktion und ihrer Verfügbarkeit auswählen; auch Beton kann je nachdem gut abschneiden. Ich persönlich arbeite viel mit Holz bei meinen Projekten mit den Studierenden. Es ist ein natürlich nachwachsendes Material und bindet zudem CO2. Es ist sehr leicht und einfach zu bearbeiten. Es ist auch ideal, um mit meinen Studierenden in kurzer Zeit etwas zu bauen. Mein Partner, mit dem ich die Firma Anku gegründet habe, kennt sich sehr gut mit Holz aus. Wir glauben, dass Holz auch einen positiven Einfluss auf die Psyche des Menschen hat. Holzverbindungen lassen sich zudem einfacher zerlegen als etwa verschweißtes Metall. Ich sage trotzdem nicht, Holz sei per se besser als andere Werkstoffe. Das Zentrale beim Wiederverwenden ist die Art der Verbindung. 

Künstliche Intelligenz erkennt in den Bildern von Google Street View bestimmte Muster und kann auf dieser Basis Informationen generieren. (Visualisierung: © ETH Zürich, Chair of Circular Engineering for Architecture)

In Ihrem Film »Genius Loci« geht es um lokale Materialien und alte Verarbeitungstechniken. Welche Rolle spielen diese Themen in Ihrer Arbeit?

Der Film zeigt den zweiten Hut, den ich neben der Forschung zu digitalen Technologien trage. Bei Anku geht es mehr um das Thema Lowtech und um historisches Handwerk. Wir haben viele Techniken vergessen, die sehr gut funktionieren, etwa japanische Holzverbindungen oder bestimmte Arten, die Oberfläche von Holz zu bearbeiten. Bei unseren Jurten, die wir bauen, verwenden wir genau solche alten Techniken. 

Mit dem Film wollten wir zeigen, wie man mit Architektur und Handwerk wieder eine Beziehung zur Natur und zu anderen Kulturen herstellen kann. Am 23. Februar wird Julia Watson in meinem Kurs sprechen. Sie hat das Buch »Lo-TEK: Design by Radical Indigenism« geschrieben, in dem es auch um diese Themen geht. Auf meinen Reisen bin ich selbst auf solche Techniken gestoßen, in Peru etwa auf Brücken aus Gras. Darum ging es unter anderem in meiner Doktorarbeit. 

Heute erleben solche Techniken ja wieder ein Revival. 

Ja, ein gutes Beispiel sind die Stampflehmbauten von Martin Rauch. Bei uns ist das Luxusarchitektur, denn Handwerk ist in unseren Breitengraden teuer. In anderen Ländern ist dies genau umgekehrt, dort will man häufig aber nicht so bauen, weil diese Bauweise zuweilen mit Armut assoziiert wird. Lieber baut man in Beton und Stahl wie in reichen Ländern. 

Wie sieht es mit dem ästhetischen Aspekt der Re-use-Architektur aus? Ich habe den Eindruck, dass sich viele Architekt*innen in ihrer Kreativität eingeschränkt fühlen dadurch. Wie nehmen Sie das wahr?

Es gibt diesbezüglich zwei Schulen. Ich persönlich mag es, Bauteile so wiederzuverwenden, dass man es nicht sieht. So kann man die Leute manchmal auch davon überzeugen. Aber es gibt auch Kolleg*innen oder Kund*innen, die das anders sehen. Sie finden, man sollte die alten Teile deutlich als solche erkennen. Der Bau soll klar kommunizieren, dass man etwas Gutes tun will. Re-use kann auch zur Handschrift werden. 

Was die Einschränkung betrifft: Für mich hat Architektur auch mit Ethik zu tun, wir können nicht mehr Bauten machen, die nur schön aussehen. Architektur kann Kunst sein, aber sie trägt auch eine gesellschaftliche Verantwortung. Schaut man sich bestimmte neue Bauten an, hat man den Eindruck, das geht manchmal vergessen. Ich finde, man müsste für Architekt*innen so etwas wie einen hippokratischen Eid einführen, wie das Ärzt*innen haben. Man müsste sich darin verpflichten, die Umwelt zu respektieren. Außerdem beweisen die Entwürfe unserer Studierenden mit gebrauchten Materialien, dass die Wiederverwendung von Baustoffen und -teilen die Kreativität nur noch beflügelt.

Dach einer Holzjurte der Firma Anku, die Catherine De Wolf mitgegründet hat. (Foto: © Catherine De Wolf)

Wie steht die Schweiz im internationalen Vergleich da bezüglich Regelungen oder ganz allgemein bezüglich des Bewusstseins für ökologische Fragen?

In Europa ganz allgemein gibt es bereits ziemlich viele Fortschritte beim Thema zirkuläres Bauen. Ich kann von Frankreich, den Niederlanden oder Belgien sprechen, wo ich selbst gearbeitet habe. In den Niederlanden etwa gibt es eine echte Politik der zirkulären Ökonomie. In der Schweiz hat man die Minergie stark gefördert, aber leider wurde dabei das Thema graue Energie zu lange außer Acht gelassen. Hierzulande hätten die Kantone die Macht, Dinge zu verändern. Es gibt immer eine gute und eine schlechte Seite bei den Regelungen. 

Das Problem mit einem Bau ist aber, dass keiner gleich ist, und manchmal wirken sich Regelungen leider negativ aus. Man müsste die Fälle einzeln beurteilen. Bei meinen Berechnungen zeigt sich allerdings, dass eine Renovation in der Regel ökologischer ist, als den Bau abzureißen und an seiner Stelle ein normkompatibles Haus zu errichten; aber das dauert länger und ist teurer. Und deswegen wird es nicht gemacht, das ist schade. Dafür tragen auch die Architekt*innen eine Verantwortung. 

Sie machen auch Filme. Inwiefern sind Bilder heute wichtig als Kommunikationskanal?

Heute informieren sich viele junge Menschen über Social Media. Ich habe einmal auf Instagram einen Post gemacht mit einem Film über einen Roboter, der Bauabfälle sortiert, um sie danach wiederzuverwenden. Er hatte 6500 Ansichten. Daraufhin hatte ich einen Austausch mit Studierenden des MIT oder der UC Berkeley. Filme und Bilder sind eine globale Form der Kommunikation.

Bei der Kommunikation des Themas Ökologie und Bauen hilft es sicher auch, die längerfristige Kostenrechnung anzusprechen. So kann man die Leute abholen. Wie sehen Sie das? 

Alles ist eine Ökonomie der Maßstäbe. Das ist mitunter der Grund, weswegen ich im Bereich künstliche Intelligenz forsche. Das Ziel meiner Erforschung von digitalen Technologien ist, die Kosten für zirkuläres Bauen zu senken. Hätten wir eine Art Tinder für wiederverwendbare Materialien auf unseren Telefonen, wie ich das vorhin erwähnt habe, wäre es zum Beispiel billiger, eine Türe in der Nachbarschaft zu finden, als in einen Do-it-Shop zu gehen und dort eine zu kaufen. Mein Ziel ist es, Re-use so günstig und einfach zugänglich wie möglich zu machen. Während der Coronakrise, als der Güterverkehr eingeschränkt war, konnte man schon beobachten, wie mehr Bauteile wiederverwendet wurden. 

Bau einer Kuppel aus wiederverwendeten Materialien zusammen mit Studierenden und der Firma Anku (Foto: © ETH Zürich, Nicole Davidson)

Sie sagten in einem Interview, zirkuläres Bauen kreiere neue Jobs. Können Sie das erläutern?

Es ist tatsächlich so, dass heute handwerkliches Know-how immer seltener wird. Zirkuläres Bauen kann dazu beitragen, handwerkliches Wissen aufzuwerten. Auch in der Logistik braucht es mehr Arbeitskräfte und das schafft neue Jobs. Es gibt auch noch einen anderen Aspekt, nämlich, dass Re-use lokale Stellen schafft. Man kann Re-use nicht outsourcen, weil es die Leute vor Ort braucht. Ein Grund für Arbeitslosigkeit ist ja, dass vieles in Ländern hergestellt wird, in denen die Produktion billiger ist.

Das Thema der Engadin Art Talks lautete dieses Jahr Hoffnung. Was motiviert Sie weiterzumachen? Haben Sie Hoffnung?

Ich bin ein sehr positiver Mensch. Ich lerne von der Geschichte, der Kultur, der Natur und der Digitalisierung. Das sind meine vier Inspirationsquellen, die mich weiter bringen. Es gibt mir viel Hoffnung, dass man heute der Natur wieder größeren Wert beimisst. In diesem Zusammenhang werden auch alte oder indigene Techniken aufgewertet. 

Ich glaube, wir sind im Begriff, uns vom eingangs angesprochenen linearen Schema zu verabschieden. Auch die Digitalisierung birgt ein riesiges Potenzial. Ich möchte, dass man digitale Werkzeuge dazu nutzt, Gutes zu tun und nicht Schlechtes. Ich beobachte auch, dass der Begriff zirkuläres Bauen immer selbstverständlicher wird, ich muss weniger oft erklären, weshalb das wichtig ist. Als ich dieses Wort vor 15 Jahren benutzte, dachten die Leute, zirkuläres Bauen habe etwas mit runden Bauten zu tun. 


Auch die deutschen Architektinnen Margit Sichrovsky und Kim Le Roux setzen sich für den Aufbau einer funktionierenden Kreislaufwirtschaft im Bauwesen ein. Zum Interview

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