Neue Zeitschicht

Dannheimer & Joos Architekten
11. July 2018
Landtag Schwerin Plenum: Der neue Plenarsaal im ehemaligen Goldenen Saal (Foto: Jens Passoth)
Worin liegt das Besondere an dieser Bauaufgabe?

Ziel unserer Arbeit war es, den scheinbaren Widerspruch zwischen dem Einbau eines modernen Plenarsaals mit all seinen nutzungsspezifischen Anforderungen in das denkmalgeschützte Schloss zu lösen. Wir wollten einen unserer demokratischen Gesellschaft angemessenen Raum für den parlamentarischen Diskurs im feudalen Märchenschloss schaffen. Ziel war es, die Besucher als Souverän möglichst nahe am Geschehen teilhaben zu lassen – und gleichzeitig Räume zu schaffen, die das Schloss mit heutigen Stilmitteln weiterbauen.

Landtag Schwerin neue Lobby: Die Lobby vor dem neuen Plenarsaal ist zugleich das Bindeglied zu den musealen Räumen des Schlosses (Foto: Jens Passoth)
Welche Inspirationen liegen diesem Projekt zugrunde?

Das Schloss hat in den vergangenen 150 Jahren vielfältige Überformungen erfahren, sodass in Teilen die historischen Raumbezüge verloren gegangenen waren. Unser Grundgedanke war, diese Baugeschichte mit allen Eingriffen und Schäden sichtbar zu erhalten und dem Parlament mit einer präzisen Raumschicht ein identitätsstiftendes Erscheinungsbild zu verleihen.
Der neue Plenarsaal stellt das Raumvolumen des vor ca. 100 Jahren abgebrannten historischen „Goldenen Saals“ von 1857, des ehemals repräsentativsten Raums der Schlossanlage, wieder her. Die zeitgenössische Neuinterpretation der beim Brand im Dezember 1913 und infolge zahlreicher Umbauten bis 2006 verloren gegangenen Gestaltungselemente gibt dem Landesparlament ihr identitätsstiftendes Erscheinungsbild.

​Konzeptuell wird der Saal in zwei Schichten unterteilt: Auf der einen Seite die historische Substanz, auf der anderen Seite eine neue, eingestellte, in weiß gehaltene Struktur aus vertikalen Lamellen unterschiedlicher Dichte und – vor den erhaltenen Lisenen – unterschiedlicher Tiefe. Sie greift die ursprüngliche Wandgliederung des Goldenen Saals mit seinen Pfeilern, Pilastern und Kanneluren auf und lässt dabei die Struktur der hinter ihr liegenden historischen Wandoberflächen durchschimmern. Sie zeigt also je nach Blickwinkel den Bestand verschieden deutlich: Abgeschlagene Pilaster, freigelegte historische Nischen und abgesägte Betonunterzüge machen die unterschiedlichen Bauzustände und den Umgang mit der Substanz ablesbar.

Wie reagiert der Entwurf auf den Ort?

In unserem Fall ist der Gebäudebestand des Schlosses der „Ort“. Durch das Freilegen verbauter Raumbezüge und die Wiederherstellung historischer Öffnungen wird der verloren gegangene Bezug zwischen Fassade und innerer Raumstruktur wieder hergestellt. Die hinzugefügte Gestaltung entwickelt sich aus dem Vorgefundenen, der Baugeschichte – ohne sie zu rekonstruieren. Neue Nutzungen wie die Anordnung des Plenums und der Besuchergalerien fügen sich in die Geometrie des Raumes ein und ordnen sich dieser unter.
Die Anordnung der Sitzreihen des Plenums in drei konzentrischen Kreisen (mit dem Präsidium auf der Querachse des Schlossgartenflügels gegenüber der Lobby) leitet sich aus dem Grundriss des verloren gegangenen Goldenen Saals ab. Darüber hinaus lässt sich der Kreis als schlüssiges Symbol für das Parlament als „höchstes Organ einer demokratischen Gesellschaft“ auffassen. Die feingliedrig ausgebildeten, als eigenständiges und neues gestalterisches Element in den Saal eingehängten Tribünen lassen die Besucher Teil des Geschehens im Plenarsaal werden.

Landtag Schwerin Besuchertribüne: Hinter der Schicht der Lamellen ist die Ebene der historischen Mauerwerksstrukturen ablesbar (Foto: Jens Passoth)
Inwiefern haben Bauherrschaft, Auftraggeber oder die späteren NutzerInnen den Entwurf beeinflusst?

Der Entwurf wurde im Wesentlichen entsprechend unserer zum Wettbewerb ausgearbeiteten Lösung umgesetzt. In enger Abstimmung mit dem Landesamt für Kultur und Denkmalpflege Mecklenburg-Vorpommern und der unteren Denkmalschutzbehörde wurden die mit heutigen Stilmitteln gestalteten Räume in das ganzheitliche Erscheinungsbild des Schlosses integriert.

Landtag Schwerin Schloss: Das Schloss liegt auf einer Insel im Schweriner See (Foto: Veronika Dannheimer)
Wie hat sich das Projekt vom ersten Entwurf bis zum vollendeten Bauwerk verändert?

Was mit dem gewonnenen Wettbewerb von 2011 als „Neugestaltung des Plenarsaals mit Konferenzbereich und Nebenräumen“ mit einer innenarchitektonischen Aufgabenstellung begann, entwickelte sich im Lauf der Planung, einhergehend mit umfangreichen Bauteiluntersuchungen, zu einer zunehmend komplexen Bauaufgabe und mündete letztendlich in eine Komplettsanierung des Schlossgartenflügels.
​Dabei mussten die Bestandsdecken konstruktiv ertüchtigt, verstärkt bzw. in großem Umfang ausgetauscht werden. Der setzungsempfindliche Baugrund des auf einer Insel liegenden Schlosses – die komplette Anlage auf der Schlossinsel ist auf Eichenholzpfählen als Fundament gegründet und hat Setzungen von mehreren Millimetern pro Jahr – führte zur Anforderung einer lastneutralen Planung und baulichen Umsetzung. Lastenverschiebungen im setzungsempfindlichen Baugrund machten in Teilen Nachgründungen notwendig, die in der Lage sind, die Setzungen des Gebäudebestands um zwei bis vier Millimeter pro Jahr synchron nachzuvollziehen. Mit der Inbetriebnahme des Schlossgartenflügels begannen die Bauarbeiten im Burgseeflügel, dessen Bausubstanz in ähnlich schlechtem Zustand ist. Auch hier ist eine Generalsanierung des Gebäudeflügels Voraussetzung für die Umsetzung der geplanten Fraktionsräume und des Konferenzbereichs.

Lageplan (Zeichnung: Dannheimer & Joos Architekten)
Grundriss 3. Obergeschoss BA 1+2 (Zeichnung: Dannheimer & Joos Architekten)
Längsschnitt (Zeichnung: Dannheimer & Joos Architekten)
Landtag Mecklenburg-Vorpommern im Schloss Schwerin
2018
Lennéstraße 1
19053 Schwerin

Nutzung
Landtag, Museum, Gastronomie

Auftragsart
International Offener Wettbewerb 2011 – 1. Preis

Bauherrschaft
Landtag Mecklenburg-Vorpommern

Architektur
Dannheimer & Joos Architekten
Tatjana Abbenseth, Ursula Besenreiter, Hea Won Jun, Eva Miklavcic, Lutz Ring, Caroline Schaeffer, Isabell Schleicher

Fachplaner
Tragwerksplanung: Büro für Baukonstruktionen GmbH, Karlsruhe
TA HKLS: BBB Ingenieurbüro für Bauwerksdiagnose-Bauphysik-Bauplanung GmbH, Schwerin
TA Elektro: Ingenieurbüro Schubert, Schwerin
TA Licht: Licht Kunst Licht GmbH, Berlin
TA A/V: Macom GmbH, Berlin
Brandschutz: Prof. Riesner und Partner, Ingenieurbüro für Brandschutz und Bauphysik, Wismar
Brandschutz: Ingenieurbüro Dipl. Ing. Hans-Joachim Möws, Wolgast
Raum- und Bauakustik: amb – Aksutische Messungen und Beratungen, Berlin
Baugrund: GuD Geotechnik und Dynamik Consult GmbH, Berlin

Ausführende Firmen
Rohbauarbeiten Neumühler Bauhütte | FLZ Stahl- und Metallbau | H. Schütt GmbH | Tischlerei Kuhlmann | SHB GmbH | Jacbo GmbH | Neidhardt Grundbau | Baugeschäft Michael Kuns | VIT GmbH | KBR | Bennert GmbH | MMS Stahl- und Anlagenbau | Senger | MKM Bau | Rost | Eheim | Stürmann GmbH | Tischlerei Thieme | Hünicke | NBH | Winterhalter GmbH | Profil Stahl. u. Met. Bau | m+s Metallbau & Sanierung | Küchentreff | TPO Holzsysteme | Tischlerie Au | Broschke | Plischke | Sun Works | LG Metall | Sylke Meier | Becker & Partner | Heims | Liefke | Ofen + Bau | Kaefer Construction GmbH | Werber | Sörgel & Bunsen | BSB GmbH | Schelf Bau | Alleweld

Hersteller
Möblierung: Vitra, Knoll
Türbeschläge: FSB, Simonswerk
Fassadenprofile: Jansen
Akustikpaneele: Pagolux
Stuhlführungsschienen: Goracon
Teppich: Carpet Concept
Trockenestrich: u. a. Knauf Gifafloor
Aufzug: Otis
Beleuchtung: Lightnet

Bruttogeschossfläche
2.280 m²

Gebäudevolumen
15.185 m³

Kubikmeterpreis
1.962 €/m³

Gesamtkosten
29.800.000 €

Auszeichnung
Tag der Architektur Mecklenburg-Vorpommern, 2018

Fotos
Jens Passoth
Veronika Dannheimer