Planen zwischen politischen, sozialen, ökonomischen und ökologischen Impulsen

Elias Baumgarten
2. Mai 2024
Foto: Elias Baumgarten

Auch Lehrbücher können fesselnd sein – und wie. Mir geht es mit »Urban Design in the 20th Century: A History« von Tom Avermaete und Janina Gosseye so. Das Buch entstand begleitend zur Vorlesung »A Global History of Urban Design«, die die beiden gemeinsam an der ETH entwickelten, bevor Gosseye an die TU Delft wechselte. Mit ihm schreiben sie eine Geschichte des Städtebaus im 20. Jahrhundert. Sie besprechen über 100 Bauprojekte, Entwürfe und Initiativen – von kanonisierten Beispielen, die ich aus meinem Studium schon in- und auswendig kannte, bis hin zu Perlen, die mir zumindest bisher noch nicht bekannt waren. Das macht die Lektüre zu einer Entdeckungsreise. Nicht mehr losgelassen aber hat mich das Buch, weil es nachzeichnet, wie eng geschichtliche Ereignisse und gesellschaftliche Machtverhältnisse mit der Entwicklung von Architektur und Städtebau verknüpft sind. Ich behaupte sogar, das Buch holt alle Geschichtsinteressierten ab – ganz gleich, ob sie sich vor der Lektüre schon mit der gebauten Umwelt befasst haben oder nicht. Das liegt auch daran, wie es geschrieben und gestaltet ist: Die englischen Texte haben keinerlei Längen, die Sprache ist präzise und leicht verständlich. Hinzu kommt die gelungene Bebilderung mit aussagekräftigen Zeichnungen, Plänen und Fotos. Das sorgt für ein tolles Leseerlebnis: Wie bei einem guten Roman möchte man erfahren, was als nächstes geschieht, und kann das Buch einmal begonnen nur schwer aus der Hand legen. Nicht umsonst wurde es 2022 mit dem renommierten Buchpreis des Deutschen Architekturmuseums ausgezeichnet.

»Urban Design in the 20th Century: A History« ist eine Ideengeschichte: Die neun Kapitel des Buches folgen einer historischen Chronologie. Vor allem aber zeigen sie jeweils städtebauliche Ansätze, die in Reaktion auf eine bestimmte soziale, wirtschaftliche, politische oder ökologische Problemstellung ersonnen wurden. Das sorgt für ein griffiges Narrativ. Auch deswegen wird das Lehrbuch zum Lesevergnügen. Wiederum zeigt sich der hohe pädagogische Anspruch von Tom Avermaete und Janina Gosseye: Sie haben Freude daran, Wissen zu vermitteln, und möchten für ihr Forschungsfeld begeistern. 

Foto: Elias Baumgarten
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Ich konnte von der Lektüre zum Beispiel mitnehmen, wie alt doch eigentlich die Idee ist, umweltfreundlich zu bauen. Vieles, was zurzeit von den Kommunikationsleuten der Büros und Hochschulen als »innovative« Idee gefeiert wird, wurde schon vor Jahrzehnten diskutiert und erprobt. Faszinierend ist zum Beispiel die Drop City in Trinidad im US-Bundesstaat Colorado. Die Arbeiten an der von Clark Richert, Richard Kallweit, Gene Bernofsky und JoAnn Bernofsky gegründeten Siedlung begannen im Mai 1965. Um die Umweltbelastung gering zu halten, bestand sie aus Leichtbauten, die als geodätische Kuppeln konstruiert wurden. Gebaut wurden diese Strukturen jedoch nicht etwa aus Stahl oder Aluminium, sondern aus einheimischem Holz. Für die Gebäudehülle verwendete man recycelte Autoteile. Um auf fossile Energieträger verzichten zu können, bauten die Bewohnenden Solarkollektoren aus alten Autospiegeln und entwickelten Wärmespeicher. – Und all das noch vor der Erdölkrise und bevor die Umweltbewegung Fahrt aufnahm.

Foto: Elias Baumgarten
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Gerahmt werden die Kapitel von einer Einleitung und einem ausführlichen Schluss. Letzterer hat mir besonders gefallen. Tom Avermaete und Janina Gosseye stellen darin klar, dass sie mit ihrem Buch nur eine mögliche Sichtweise liefern. Denn Geschichte kann auf viele Arten und aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt werden. Wie es in der Wissenschaft immer mehr üblich ist, verorten sie sich selbst als europäische Forscher. Selbstkritisch sprechen sie die Schwachstellen ihres Buches an, das sehr auf ein kohärentes Narrativ bedacht ist. So hätte »Urban Design in the 20th Century: A History« womöglich eine viel diversere und weniger männlich geprägte Autorenschaft zutage gefördert, wäre der Fokus auf die Netzwerke von Menschen gelegt worden, die die Projekte umgesetzt haben. Und anstelle des gewählten ideengeschichtlichen Ansatzes wäre auch die Frage interessant gewesen, was nach ihrer Fertigstellung aus den Projekten wurde. Wie wurden sie in der Benutzung transformiert? Eine solche Betrachtungsweise hätte Stärken und Schwächen der Planungen offengelegt und ein gänzlich anderes Narrativ ergeben. Kurzum, die beiden Architekturprofessoren stecken am Ende ihres Buches etliche neue Forschungsfelder ab. Sie fordern Forschende und Studierende heraus, eine andere Geschichte zu schreiben.

Foto: Elias Baumgarten
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