Der Wohnbau als Innovationstreiber

Ulf Meyer
16. Mai 2023
Projekt Wiesenschlag, Berlin, Deutschland, Wettbewerbsbeitrag, 2016, PPAG architects (Modellfoto: © PPAG architects)

In Europa mangelt es vielerorts an erschwinglichem Wohnraum – längst nicht nur in den großen Städten, sondern auch in ganzen Regionen wie dem Vorarlberger Rheintal. Viele Menschen können sich die durch Spekulation und (vorsätzliche) Verknappung gestiegenen Mieten nicht leisten. Und bezahlbare Wohnungen neu zu schaffen, ist eine große Herausforderung: Die Zinspolitik, die steigenden Baukosten, die starke Inflation sowie der Mangel an Materialien und Handwerker*innen erschweren das Bauen immens. Hinzu kommt, dass die Klimakrise und die Mobilitätswende zusätzliche Anforderungen an die Gestaltung der gebauten Umwelt stellen.

Am 15. Juni dieses Jahres startet im Haus der Architektur (HDA) in Graz eine Ausstellung zum Thema Wohnbau – ihr Titel: »Fortschritt durch Wohnbau«. Sie versammelt aus Sicht der Kuratoren »wegweisende« Wohnbauten und Entwürfe, die in den letzten Jahren in Mitteleuropa entstanden sind. Darunter sind hinlänglich bekannte und vieldiskutierte Beispiele wie die Forschungshäuser im bayerischen Bad Aibling (2020), anhand derer der Münchner Architekt Florian Nagler Studien anstellt. Er ließ die drei Häuser gleicher Kubatur in verschiedenen Baustoffen (Massivholz, Mauerwerk und Leichtbeton) errichten, um deren Qualitäten, Stärken und Schwächen miteinander zu vergleichen. Naglers Untersuchung des »Einfachen Bauens« in monolithischer Bauweise ist wohl ein einmaliges Experiment und mündete schließlich in die Entwicklung des Gebäudetyps E.

Drei Forschungshäuser, Bad Aibling, Deutschland, 2020, Florian Nagler Architekten (Foto: © Sebastian Schels)
Nest-Unit (UMAR), Dübendorf, Schweiz, 2018, Werner Sobek mit Dirk E. Hebel und Felix Heisel (Foto: © Zooey Braun)

Die Grazer Ausstellung zeigt auch Beispiele für neue Wohnformen und wandlungsfähige Räume, die sich verschiedenen Lebensphasen und -entwürfen anpassen können. Die Konzepte, Forschungsprojekte und Raumideen sollen die Besucher*innen inspirieren. Sie »wollen zur Nachahmung anregen«, so die Kuratoren.

Eines der interessantesten Gebäude in der Schau ist das Wohnhaus Erlenmatt Ost in Basel, das nach einem Entwurf von Heinrich Degelo im Jahr 2019 fertiggestellt wurde. Es dient 36 Bewohnenden, die in einer Genossenschaft zusammengefunden haben, zum Wohnen und Arbeiten. Alle Genossen brachten je 30'000 Franken (etwa 31'000 Euro) ein. Die Baukosten lagen bei nur 1,6 Franken pro Quadratmeter Bruttogeschossfläche. Dieser gerade für Schweizer Verhältnisse überaus günstige Preis ermöglicht Monatsmieten von 10 Franken pro Quadratmeter. Allerdings bekommt man dafür nur einen Wohnungsrohling mit Kalksandsteinwänden und ohne Heizung, der nach Belieben angepasst werden kann. Als Wärmequellen dienen allein die Nutzer*innen selbst, die Elektrogeräte, die Beleuchtung und das einfallende Sonnenlicht. Damit dies funktioniert, sind die Außenwände aus Dämmziegel 78 Zentimeter stark. Mit dem Haus wurde also versucht, gleich mehrere Ziele zu erreichen, um die es in »Fortschritt durch Wohnbau« geht: Wirtschaftlichkeit, Umweltfreundlichkeit und soziale Flexibilität.

Wohnanlage »Wir InHAUSer«, Salzburg, 2021, cs-architektur (Foto: © Volker Wortmeyer)
Wohnanlage Max-Mell-Allee, Graz, 2018, Nussmüller Architekten (Foto: © Simon Oberhofer)
Wohnhaus Kiubo, Graz, 2022, Hofrichter Ritter Architekten (Foto: © Jakob Waltl)

Die Vernissage der Ausstellung im HDA (Mariahilferstraße 2, 8020 Graz) findet am 15. Juni um 19 Uhr statt. Die Schau dauert bis zum 3. September dieses Jahres. Zum umfangreichen Rahmenprogramm gehört auch ein großes Symposium, das am 16. Juni stattfindet.


Elli Mosayebi, Professorin an der ETH Zürich, beschäftigt sich in Lehre, Forschung und Praxis mit dem Wohnbau. Wir haben mit ihr über die Geschichte und Zukunft des Wohnens gesprochen. Zum Interview

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