Nicht nur Objekte designen, sondern auch Veränderungen

Susanna Koeberle
15. Oktober 2021
Kampagne von Bueronardin für Brigittenau, den diesjährigen Fokusbezirk der Vienna Design Week (Foto © Vienna Design Week, Bueronardin, Niko Havranek)

»Vienna is nice«: Mit diesem harmlos klingenden Satz begann Indy Johar, Architekt und Mitbegründer des interdisziplinären Kollektivs Dark Matter Labs, seinen Vortrag »Let’s build the circular city!«. Das Referat fand im Rahmen der fünfzehnten Ausgabe der Vienna Design Week (VDW) unweit der diesjährigen Zentrale in Brigittenau statt. Wien sei nett (eben »nice«), aber nicht nett genug, sagte Johar am Schluss seiner eindrücklichen Präsentation. Und er meinte das ernst; er sprach dabei allerdings allgemeine Probleme an, die den urbanen Raum und daraus resultierende gesellschaftliche Veränderungen betreffen. Doch dazu später mehr. Raum für Prozesse bieten oder solche sogar anstoßen: Das tut die VDW seit 2007. Damit positioniert das Festival Design jenseits einer netten Lifestyle-Disziplin, die »Cappuccino-Urbanismus« (ein Wort, das Johar benutzte) bedient. Vielmehr zeigt die VDW, dass Design grundsätzliche Fragen zu unserem Zusammenleben stellt und diesbezüglich durchaus auch Lösungen anzubieten hat. 

Das Festival hat sich im Laufe der Zeit stets weiterentwickelt, immer wieder neue Formate erprobt und diese zugleich über mehrere Jahre fortgeführt. Kontinuität und Veränderung halten sich die Waage und schaffen die Basis für ein Netzwerk, das über die Zeit stetig gewachsen ist und zu Neuerungen geführt hat. Neu ist dieses Jahr auch die Festivalleitung. Gabriel Roland ist schon einige Jahre bei der VDW tätig und übernahm den Direktionsposten nun von Lilli Hollein, die das Festival 2007 mitgegründet hat und seit Anfang September dieses Jahres Generaldirektorin des MAK (Museum für angewandte Kunst) in Wien ist. Ein solch vielschichtiges und meist auch international besetztes Festival in so kurzer Zeit auf die Beine zu stellen, ist anspruchsvoll. Dass dies trotz Pandemie und erschwerten Umständen (inklusive schwieriger Finanzierung) gelungen ist, ist ein gutes Zeichen und stimmt auch für die Zukunft des Festivals zuversichtlich. Das größte kuratierte Designfestival Österreichs zeigte auch dieses Jahr deutlich, wie stark das Thema Design unsere Lebenswelt durchdringt und gerade im städtischen Raum Impulse liefern kann für einen dringend notwendigen Wandel. 

Bunte Szenografie in der Festivalzentrale am Sachsenplatz (Foto © Vienna Design Week, Patrizia Gapp, Kollektiv Fischka)
Weniger bekannte Teile Wiens entdecken

Die stets wechselnde Festivalzentrale befand sich heuer am Sachsenplatz in Brigittenau, dem 20. Wiener Gemeindebezirk. Ziel der VDW ist nämlich auch das Entdecken und Aktivieren eher unbekannter Stadtteile. Vor der Zentrale war das »studio mobil/think tank station» von urbanthinktank_next (Hubert Klumpner, Michael Walczak) parkiert. Das transdisziplinäre Urban-Food-Projekt entstand im Kontext der Vienna Biennale for Change 2021, die während vier Monaten an mehreren Standorten in Wien unter dem Motto »Planet Love« Impulse für Neuorientierung bot. Dass die Biennale bis Ende der VDW besucht werden konnte, bereicherte unseren Wien-Besuch. Das Zusammenspannen mit etablierten Institutionen und anderen Programmpartnern gehört zum Konzept der VDW.

Vor der Zentrale der Vienna Design Week war das »studio mobil/think tank station« von urbanthinktank_next (Hubert Klumpner, Michael Walczak) geparkt. (Foto: pp Agentur)
Was stärkt die lokale Gemeinschaft?

In den ehemaligen Gewerbehallen der Zentrale fanden sich Besucher*innen dank dem Leitsystem von Robert Rüf sowie der Grafik von Bueronardin zurecht. Eine Vielzahl von Designer*innen führte in den großzügigen Räumen mit konkreten Alltagsprodukten, internationalen Initiativen und aparten Szenografien vor, wie vielgestaltig die Disziplin Design sein kann. Neben der Festivalzentrale befinden sich immer auch andere Locations im jeweiligen Fokusbezirk. Ein spannender Teil der Stadt, der an der VDW beleuchtet wurde, ist das Nordwestbahnviertel. Es wandelt sich zurzeit stark. Solche Transformationsprozesse sind spannend und werden von der VDW als Chancen gesehen. Das Format »Stadtarbeit« zum Beispiel verankert sich explizit im lokalen Kontext und möchte dazu beitragen, Diskurse im gesellschaftlichen und urbanen Gefüge anzustoßen. Im Vorfeld des Festivals riefen VDW und Erste Bank zum siebten Mal dazu auf, Konzepte und Ideen einzureichen. Drei von einer Fachjury ausgewählte Projekte bekamen ein Budget zugesprochen und konnten im Fokusbezirk umgesetzt werden. Der Schwerpunkt lag dieses Jahr auf dem Thema »Resiliente Nachbarschaft«. Das macht Sinn, denn angesichts der Pandemie und der mit ihr einhergehenden Herausforderungen hat sich gezeigt, wie wichtig nachbarschaftliche Netzwerke sind. Alle drei Interventionen belegten, wie Design im öffentlichen Raum agieren und damit die Nachbarschaft stärken kann. 

Das Institut of Design Research Vienna (IDRV) untersuchte mit seinem Projekt »im20.wien«, wie sich die lokale Gemeinschaft durch partizipative Tools in physischen und digitalen Räumen organisieren kann. Durch thematisch gegliederte Einträge auf Google Docs, die für alle zugänglich sind, entstand eine alternative Karte des Quartiers. Auf diese Weise konnten in relativ kurzer Zeit Daten gesammelt und dadurch Wissen und Informationen geteilt werden. Durch eine zusätzliche Präsenz im öffentlichen Raum in Form von einfachen Holzauslagen machte das IDRV-Team während des Festivals auf das Projekt aufmerksam und suchte den Kontakt zur Bevölkerung. Dass sich die Objekte auf Parkplätzen befanden, gab zu reden, womit die Priorisierung des Individualverkehrs einmal mehr offensichtlich wurde. Es ist wichtig, solche Diskussionen zu führen, denn erst diese schaffen eine Basis für Veränderung. »im20.wien« zeigt auch, dass ein einfaches Designobjekt wie eine Holzauslage mehr mit Stadtplanung zu tun hat, als vermutet. Der Designbegriff, den die VDW vermittelt, ist bewusst weit gefasst. 

Mit dem Projekt »im20.wien« fragte das Institut of Design Research Vienna, was die lokale Gemeinschaft stärkt. (Foto © Vienna Design Week, Petra Rautenstrauch, Kollektiv Fischka)
Social Design: Wie kann man mentale Gesundheit schützen?

Gerade Designforschung ist noch relativ jung; es ist vielen Menschen nicht klar, was Design mit urbanen oder sozialen Themen verbindet. Doch wer etwa ein Impfzentrum besucht, erkennt, dass Design sehr wohl zur Verbesserung und Erleichterung von Alltagshandlungen beitragen kann. Da gibt es natürlich auch andere Beispiele. Die Frage dahinter bleibt indes die gleiche: Was braucht unsere Gesellschaft? Diesem Thema widmet sich das sogenannte Social Design. Mit dem Wohlbefinden der einzelnen Mitglieder der Gemeinschaft befasst sich Max Scheidl – das zeigte er an der VDW. Sein Diplomprojekt im Studiengang »Design Investigations« an der Universität für angewandte Kunst Wien trägt den Titel »The Artisans of Public Psyche« und hat sich nichts Geringeres zum Ziel gesetzt, als psychischen Erkrankungen durch Interventionen im öffentlichen Raum vorzubeugen. Als er mit seiner Arbeit startete, holte ihn die Realität in Form von Corona ein. Es ist mittlerweile bekannt, dass die gesellschaftlichen Folgen der Pandemie eine große psychische Belastung darstellen können. Der Designer entwickelte drei Kommunikationsinstrumente, die Technologie und menschliche Interaktion vereinen. Damit will er keinesfalls professionelle Hilfe infrage stellen oder Expert*innen ersetzen. Doch mit seinen niederschwelligen Angeboten sollen Probleme sichtbar gemacht und mögliche Handlungsfelder aufgezeigt werden. Die Tabuisierung von psychischen Erkrankungen verschlimmert diese nämlich nur. Scheidls Arbeit »Grantmistkübel« etwa besteht aus einem Kübel und einem Mikrofon. Passant*innen können ihre belastenden Erfahrungen loswerden, indem sie diese verbalisieren. Das Gesprochene wird aufgenommen und der Kübel spuckt anschließend einen durch Künstliche Intelligenz generierten Text aus. Daraus entsteht später ein kollektiver »Granttext« des Bezirks. Die Menschen sollen merken, dass sie nicht allein sind mit ihren Gefühlen. 

Das Projekt »The Artisans of Public Psyche« von Max Scheidl (Foto © Vienna Design Week, Patrizia Gapp, Kollektiv Fischka)

Das mag sich banal anhören, ist es aber nicht. Nicht nur die Pandemie bedroht unsere psychische Gesundheit, Städte im Allgemeinen sind Treiber dieser Entwicklung. Mentale Erkrankungen verursacht durch Stress sind ein ernstes Problem, das grundsätzliche Werte unserer Gesellschaft auf die Probe stellen. Es stellt sich etwa die Frage, welche Bedeutung wir Care-Arbeit beimessen. In diesen Fragestellungen manifestieren sich politische Themen, denen sich auch Regierungen stellen müssen. Genau diese Wahrnehmung für komplexe Verflechtungen möchte auch Indy Johar schärfen. Der Klimawandel etwa sei für ihn vor allem das Symptom eines systemischen Problems mit tiefreichenden Folgen, erklärte der Architekt, der von der Plattform Mostlikely nach Wien eingeladen worden war. Bis vor kurzem dachte man in der westlichen Welt, meinte Johar, dass sich negative Veränderungen stets anderswo abspielen, doch Covid habe nun das Gegenteil bewiesen. 

Der indische Architekt Indy Johar ist Mitbegründer von Dark Matter Labs. (Foto © Vienna Design Week, Stefanie Freynschlag, Kollektiv Fischka)
Es ist an der Zeit, Werte zu hinterfragen

In seinen Ausführungen appellierte der indische Architekt sowohl an die Politik als auch an unsere Resilienz als Form der demokratischen Handlungsfähigkeit. Und er ging so weit zu sagen, dass wir (also alle) überdenken müssten, was es heiße, Mensch zu sein – auch im Hinblick auf unsere Beziehung zur Natur. Es geht auch in den Städten um eine Neudefinition von Werten. Was heißt es im 21. Jahrhundert, Werte zu teilen? Und wie sollen Städte in Zukunft wachsen? Das sind soziale Prozesse, die in Indy Johars Augen auch kapitalistische Grundwerte wie Besitz infrage stellen. Denn sobald wir etwas besitzen, meinen wir, frei darüber verfügen zu können. Damit sind wir unversehens auch beim Thema Selbstbestimmung und Identität. Wie definieren wir uns innerhalb einer Gemeinschaft? Zu dieser gehören eben nicht nur Menschen, sondern auch andere Lebewesen. Was kann etwa ein Baum im städtischen Raum zur Verbesserung der Lebensqualität beitragen? Die Klimakrise ist für den Architekten auch eine philosophische Debatte. Was das mit Design zu tun hat? Sehr viel! Design bedeutet nicht nur, Objekte in diese Welt zu setzen, sondern neue Beziehungen zu ihr zu imaginieren. Design kann mit anderen Worten auch spekulativ sein; so heißt übrigens eine Richtung von experimenteller Designforschung, die auch an der Angewandten in Wien gelehrt wird. Damit schließt sich der Kreis. Doch Indy Johars Statement »Vienna is nice, but not nice enough« ist ein Appell an jede Form der urbanen Gemeinschaft. Dieser Aufruf richtet sich ebenso an Architekt*innen: Architektur muss wie Design neu gedacht werden. 

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